von Stefan Hajek • am 11. Dezember 2023
Auf der Weltklimakonferenz COP 28 in Dubai ist eigentlich alles wie immer, seit die Staaten der Erde 1995 in Berlin erstmals fast alle über den Klimawandel berieten: Es ist ein zähes Ringen um ein paar Prozent weniger CO2, Industrielobbyisten gegen Klimaschützer, große gegen kleine Staaten, Erdöl-Länder gegen den Rest und irgendwie alle gegen alle. Aber eben nur fast: Ein Beschluss lässt dieses Mal aufhorchen. 22 Staaten haben in Dubai angekündigt, die Kernenergie wiederbeleben zu wollen. Diese spiele „eine Schlüsselrolle dabei, (…) die Treibhausgasemissionen bis 2050 global auf null zu reduzieren und das 1,5-Grad-Ziel in Reichweite zu halten“, heißt es in ihrer Erklärung.
Die 22 Staaten haben große Pläne. Bis 2050 wollen sie, darunter große Industrieländer wie die USA, Frankreich, Großbritannien und Japan, ihre Atomstromproduktion verdreifachen. Ausgerechnet Japan, werden viele denken: Die Havarie des Atomkraftwerks in Fukushima war es, die 2011 unter anderem in Deutschland zum endgültigen Aus für die Energieform führte. Unter dem Eindruck des GAU (und wohl auch der Umfragen danach) läutete die damalige Kanzlerin und gelernte Physikerin Angela Merkel das endgültige Atom-Aus in Deutschland ein, das die Ampelkoalition Anfang dieses Jahres umsetzte. Trotz teils heftiger Proteste aus Opposition, FDP und Industrie gegen den Ausstieg.
Der politische Wind dreht
Doch seit dem Fukushima-Unfall 2011 hat der öffentliche Wind gedreht: Immer mehr Politiker und Industriemanager forderten zuletzt einen Ausstieg vom Ausstieg, darunter ehemalige starke Befürworter eines Atom-Ausstiegs – wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder – und andere auf den ersten Blick überraschende Pro-Atom-Aktivisten, etwa Greta Thunberg oder Petteri Taalas, Chef der Weltwetterorganisation WMO, unter deren Dach der Weltklimarat IPCC seine in der Regel furchteinflößenden Berichte erstellt; der IPCC selbst macht sich inzwischen dafür stark, „alle nicht fossilen Energiequellen zu nutzen, um die Treibhausgase zu senken, auch Atomstrom“.
So unterschiedlich der Background, so unisono die Argumentation der vielen neuen Befürworter: Ohne Kernkraft, sagen sie, sei das Ziel, ab 2050 kein Kohlendioxid (CO2) mehr auszustoßen und so den Anstieg der Erderwärmung wirksam zu begrenzen, keinesfalls zu schaffen. Der Ausbau der Erneuerbaren dauere dafür einfach zu lange. Kernenergie könne helfen, weil sie auch im Winter und bei Flaute CO2-freien Strom liefere – also genau dann, wenn sich die Erneuerbaren schwer tun.
Aber wie realistisch ist eine so fulminante Kehrtwende in einer – riskanten – Hochtechnologie, die seit 2011 weltweit zurückgefahren wurde? Kann die Industrie einen solchen U-Turn überhaupt leisten oder sind es reine Lippenbekenntnisse der Politik, die allmählich merkt, dass ihr beim Klimaschutz die Felle davon schwimmen, weil die Dekarbonisierung zu zäh vorangeht und immer teurer wird?
Wie schaltet man ein Atomkraftwerk ab?
Wie funktioniert ein Kernkraftwerk?
Ein Kernkraftwerk produziert Strom aus Wärme. Bei der Spaltung der Atomkerne wird Energie freigesetzt. Die Hitze, die dabei entsteht, wird genutzt, um Wasser in Dampf umzuwandeln. Dieser Dampf treibt dann eine Turbine an, die wiederum einen Generator antreibt, der Strom produziert.
Was passiert bei der Abschaltung eines Meilers?
Die Leistung des Reaktors wird nach Angaben des Kraftwerksbetreibers Energie Baden-Württemberg (EnBW) kontinuierlich abgesenkt. Dies geschehe durch das schrittweise Einfahren von sogenannten Steuerstäben in den Reaktorkernen – diese dienen der Regelung und Abschaltung eines Kernreaktors. Danach wird der Generator vom Stromnetz genommen und der Reaktor komplett abgeschaltet. Der Abschaltvorgang funktioniere wie bei den regelmäßigen Überprüfungen, erläutert der Kraftwerksleiter des bayrischen Meilers Isar 2, Carsten Müller. Nach der Netztrennung werde der Reaktor heruntergefahren, sagt Müller. „Das dauert etwa eine Viertelstunde.“ Dann beginnt die eigentliche Arbeit: Die hochradioaktiven Brennelemente werden entfernt und in sogenannten Castorbehältern in Zwischenlagern aufbewahrt. In Deutschland gibt es aktuell 16 Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle.
Gibt es kein Endlager in Deutschland?
Nein. Es wird weiterhin nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle gesucht. 2017 wurde ein neues Verfahren dafür gestartet, um die Öffentlichkeit miteinzubeziehen.
Können die Abfälle nicht einfach in den Zwischenlagern bleiben?
Nein. Nur Endlager in tiefen geologischen Schichten gelten als dauerhaft sichere Lösung. Tiefliegende Gesteine bieten eine natürliche Barriere, die vor Strahlung schützt.
Was passiert nach der Abschaltung mit dem Gelände eines AKW?
Atomkraftgegner fordern immer wieder „blühende Wiesen“, die nach dem Abbau eines Kernkraftwerks das Land wieder in seinen natürlichen Zustand zurückbringen sollen. Doch das ist nicht so leicht. Denn das Gebäude kann nicht einfach abgerissen werden, solange sich radioaktive Elemente darin befinden. Wurden die Brennelemente entfernt, sind die Aktivitätsmengen jedoch nur noch gering – beispielsweise, wenn der Reaktordruckbehälter selbst radioaktiv geworden ist. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) rechnet mit rund 15 Jahren für den Abbau eines Meilers, bis er aus der atomrechtlichen Überwachung entlassen werden kann. Hinzu kommen noch etwa zwei Jahre für den Abriss der Gebäude. Nach der Planung des Betreibers RWE wird die Anlage Emsland beispielsweise im Jahr 2037 nachweislich frei von jeder Radioaktivität sein. Gibt es international Vorbilder bei der Stilllegung von Meilern?
Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien zählte 2021 zwar weltweit 198 abgeschaltete oder in Stilllegung befindliche Atomkraftwerke, doch nur bei 20 davon ist die Stilllegung schon komplett abgeschlossen. In einigen Ländern fehlen noch die Ressourcen und Strukturen dafür. So wird beispielsweise auch in Schweden, Finnland oder der Schweiz nach Endlagern im Untergrund gesucht. Dem Umweltministerium zufolge gibt es in Europa und weltweit noch kein betriebsbereites Endlager für hochradioaktive Abfälle aus der friedlichen Nutzung der Atomenergie.
Wer bezahlt den Atomausstieg?
Der Atomausstieg wird kostspielig – so viel steht fest. Eine Kommission hat die Gesamtkosten unter anderem für Stilllegung und Rückbau der Meiler sowie die Transporte und die Lagerung der Abfälle auf 48,8 Milliarden Euro geschätzt. Daraufhin wurde ein Fonds eingerichtet, in den die Betreiber der Atomkraftwerke einzahlen mussten. Aus diesem Betrag soll die Zwischen- und Endlagerung bezahlt werden. Die Energieversorger sind auch für die Kosten von Stilllegung und Rückbau der Meiler verantwortlich. RWE zufolge schwanken die Kosten für den Nachbetrieb und Rückbau eines Kernkraftwerks je nach Größe, Alter und Betriebsstunden der Anlagen zwischen 500 Millionen und 1 Milliarde Euro.
Stand: April 2023
Fakt ist: Bisher gibt es keine Renaissance
Mycle Schneider ist so etwas wie der oberste Buchhalter der globalen Atomindustrie: Seit Jahren listet der Pariser Energieanalyst mit einem rund zehnköpfigen Team aus internationalen Experten minutiös auf: die Zahl der aktiven AKW in der Welt und deren elektrische Leistung, ihre Revisionen, die Ausfallzeiten, die am Ende gelieferte Strommenge und deren Kosten in Dollar pro Megawattstunde (MWh). Ihm entgeht kein Neubau, keine Stilllegung, kein Genehmigungsgesuch, kein temporäres Abschalten und kein Wiederanfahren.
Über die aktuelle politische Debatte zeigt er sich einigermaßen irritiert, um es nett zu sagen: „Das ist eine Diskussion aus La-La-Land“, schimpft er. „Es gibt einen tiefen Graben zwischen Wahrnehmung und Realität.“ Die lasse sich auch nicht mit politischen Willensbekundungen und Absichtserklärungen herbeireden, so Schneider. „Das ist ein Industriethema, da geht es nicht um Wollen oder Meinung, es herrschen techno-ökonomische Sachzwänge.“ Von einem deutschen Alleingang könne keine Rede sein; weltweit sei die Atomkraft auf dem Rückzug (siehe Grafik).
In relativen Zahlen gemessen hat Schneider recht: Der Anteil der Kernkraft an der Gesamtproduktion von Strom weltweit ist stark rückläufig; er sinkt nicht erst seit Fukushima 2011, sondern schon seit 1996: Von damals 17,7 Prozent an der Stromproduktion hat er sich fast halbiert auf 9,2 Prozent. Allein 2022 fiel er um 0,6 Prozentpunkte, so schnell wie in keinem Jahr seit 2012. In den vergangenen 20 Jahren gingen in jedem Jahr mehr AKW vom Netz, als neue gebaut wurden.
Man kann Schneiders Zahlen aber auch so lesen: Trotz Tschernobyl und Fukushima sind weltweit derzeit 58 neue AKW in Bau, 24 davon in China. Trotz zweier furchtbarer GAUs halten 32 Staaten an der (sehr teuren) Energieform fest. Und die global produzierte Strommenge der 407 AKW lag 2022 mit 2546 Terawattstunden (TWh) fast auf dem Niveau des historischen Hochs von 2006 bei 2660 TWh. Dass sich ihr Anteil an der globalen Stromerzeugung fast halbiert hat, liegt also nicht an einer vermeintlich schrumpfenden Kernkraft: Es liegt am massiven Ausbau der Erneuerbaren. Allein 2023 werden nach jüngsten Berechnungen von Bloomberg New Energy Finance 443 Gigawatt nur an Solarenergieleistung neu installiert. Der Solar-Zubau eines einzigen Jahres leistet bereits erheblich mehr als die weltweite AKW-Flotte insgesamt: 386 Gigawatt.
Kann die Kernkraft wieder aufholen? Skeptiker wie Mycle Schneider bezweifeln, dass die Nuklearindustrie überhaupt neue AKW in nennenswerter Zahl bauen kann. „Es gibt die entsprechende Lieferkette in Europa nicht mehr; die Industrie ist seit den 1980ern in einem Schrumpfprozess und schon arg gefordert, wenigstens die Zahl der aktiven AKWs beizubehalten“, sagt der Analyst.
In der Tat ist nicht ganz klar, wer die von der Politik gewünschten vielen neuen AKW in Europa konkret bauen soll. Weltweit gibt es nur noch ein halbes Dutzend Unternehmen, die überhaupt das nötige Know-how dafür besitzen: Neben den beiden chinesischen Staatskonzernen CGN und CNNC sind das Rosatom (Russland), KHNP aus Südkorea, Westinghouse aus den USA und EDF/Framatome aus Frankreich. Westinghouse hat bisher nicht außerhalb Amerikas gebaut. In den USA hat der Konzern in den letzten zehn Jahren nur vier neue Reaktorblöcke begonnen, zwei davon wurden nach etwa 10 Milliarden Dollar Baukosten und vier Jahren Bauzeit aufgegeben.
Rosatom aus Russland baut derzeit außerhalb Chinas die meisten AKW, insgesamt 19. Doch Rosatom steht infolge des Ukraine-Kriegs in den meisten westlichen Staaten unter Boykott. Auch die chinesischen Atom-Konzerne sind sehr unwahrscheinliche Bauherren im Westen: Sie stehen auf schwarzen Listen der US-Regierung; jeder, der mit ihnen Geschäfte machte, sähe sich der Gefahr von US-Sanktionen ausgesetzt. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass chinesische oder russische Unternehmen in Westeuropa in den nächsten Jahren ein AKW bauen dürfen“, meint Schneider.
Der naheliegendste Bauherr wäre Framatome; die Franzosen kennen die europäischen Genehmigungs- und Bauvorschriften am besten. 1958 begann Framatome mit einer Westinghouse-Lizenz, Reaktoren für das damals neue französische Nuklearprogramm zu bauen; es entwickelte bald eigene, übernahm 2011 die deutsche Siemens-Nuklearsparte aus Erlangen als Areva, 2011 stieg Siemens wieder aus. Dass das Unternehmen, dessen Mutterkonzern EDF zuletzt aus einem Jahresumsatz von 143,5 Milliarden Euro rund 19 Milliarden Euro Verlust machte und 65 Milliarden Euro Nettoschulden angehäuft hat, in der Lage ist, Dutzende neue AKW in anderen europäischen Ländern zu bauen, scheint zumindest zweifelhaft.
Derzeit jedenfalls haben die Franzosen mehr als genug zu tun, Frankreichs eigene, alternde Flotte zu erhalten (siehe Grafik). 51 der 56 französischen Reaktoren sind 31 Jahre oder älter, 21 mehr als 41 Jahre alt. Ohne staatliche Finanzhilfen geht nichts mehr bei EDF/Framatome. Im vergangenen Jahr musste man Spezialschweißer aus den USA einfliegen, weil die Belegschaft nicht einmal für die Wartung und Instandsetzung der französischen AKW-Flotte ausreicht. Die durchschnittliche Zeit am Netz des greisen französischen AKW-Parks lag 2022 nur noch bei 52 Prozent, da ist mancher schottische Offshore-Windpark inzwischen zuverlässiger.
In Frankreich hat Framatome derzeit den konkreten Auftrag für sechs neue AKW. 2021 wurde eine interne Analyse geleakt, wonach, wenn alles optimal läuft, das erste davon frühestens 2039 in Betrieb gehen kann – wenn es durchschnittlich läuft, 2043. Bliebe der südkoreanische Konzern KHNP. Der hat bislang ein einziges AKW außerhalb Koreas gebaut, wo der Staat großzügig finanzielle Risiken abpuffert: in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Inwieweit dortige Baubedingungen mit denen in der EU vergleichbar sind, ist unklar.
Es gibt dennoch Argumente für die Kernkraft
Aber es gibt auch Branchenkenner, die optimistischer sind. Jochen Latz zum Beispiel. Zusammen mit einem US-Kollegen leitet der studierte Maschinenbauer die globale Nuklearsparte des Beratungskonzerns McKinsey. Bis vor kurzem habe er im Alltag fast ausschließlich Energiekonzerne beim Rückbau ihrer AKW beraten; seit „etwa zwei Jahren“ aber verzeichnet Latz wieder vermehrt Anfragen zu Projekten, die sich mit dem Ausbau bestehender AKW beschäftigen. „Noch vor wenigen Jahren wäre ich nie von einer solchen Trendwende ausgegangen.“
Das Argument, es gebe keine Firmen mehr, die neue AKW bauen könnten, zieht für Latz eher schlecht: „Das ist ein Henne und Ei-Problem, und damit letztlich eine Frage des politischen Willens“, glaubt Latz. „Wenn jemand die fraglos hohen Kosten des Neubaus der ersten fünf oder sechs neuen Reaktorblöcke in Westeuropa übernimmt, und weitere zumindest die Genehmigung bekommen, dann würden sich auch neue Konsortien für den Bau weiterer Kernkraftwerke bilden“, glaubt der Berater. Es gebe „10 bis 15 europäische Länder, in denen es relativ sicher ist, dass neue Reaktorblöcke gebaut werden“. Neben Großbritannien, Frankreich, der Slowakei und der Türkei, wo bereits gebaut wird, seien das Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechien und Schweden.
Allerdings warnt auch er vor überzogenen Erwartungen: „Eine besonders schnelle Lösung ist das nicht.“ Und neue AKW auf der grünen Wiese werde es in Europa auf absehbare Zeit nicht geben. „Um es klar zu machen: Es geht in den nächsten 15 Jahren nur um zusätzliche Reaktorblöcke an bereits existierenden Standorten, für die die Genehmigung und Infrastruktur schon da ist.“ Komplett-Neubauten an neuen Standorten würden viel zu lange dauern – allein die Genehmigung mehr als zehn Jahre – und sie wären wohl auch zu teuer; die politische Durchsetzbarkeit ist sehr fraglich.
„Aber schon die Erweiterung bestehender Kernkraftwerke mit neuen Blöcken könnte Entlastung bringen“, sagt Latz. McKinsey rechnet bis 2045 in Europa mit einem „moderaten Zubau“ von etwa 130 Gigawatt, sagt Latz – keine Verdreifachung, wie sie die 22 Rebellen von Dubai anstreben, aber eine Trendwende wäre das. Bei der Frage, ob neue AKW bei der geplanten vollständigen Dekarbonisierung der Wirtschaft bis 2050 nötig sind oder nicht, geht es immer auch ums Geld. Denn technisch möglich ist beides: mit oder ohne AKW.
Setzt man, wie Deutschland, auf ein rein erneuerbares Energiesystem, braucht man für den Übergang Gaskraftwerke als so genannte Peaker – sie müssen noch so lange flexibel einspringen können, wie im Winter der Strombedarf das Angebot an Wasserkraft, Wind und Sonne noch übersteigt. Langfristig braucht man vor allem Speicher. Setzt man wie die USA, China, Frankreich oder Korea auch auf Atom, braucht es bei sonst gleichen Bedingungen weniger Speicher und Netzumbau.
Zwar wachsen auch in Deutschland die Erneuerbaren sehr schnell; 2023 dürften im Schnitt schon je rund 60 Prozent der produzierten und verbrauchten Strommenge erneuerbar gewesen sein. Richtig ist aber auch, dass die letzten 40 Prozent sehr viel schwieriger und vor allem teurer werden als die ersten 60. Das liegt am schwankenden Ausstoß der Erneuerbaren: Solange deren Angebot weit unter der Last, also der permanenten Stromnachfrage lag, war es technisch einfach und relativ günstig, fossile und Kernkraftwerke durch Wind und Sonne zu ersetzen: Der Markt „schluckte“ das Angebot an Grünstrom einfach weg.
Je mehr Erneuerbare aber schon im System sind, Netze auslasten und größere Teile des (ebenfalls schwankenden) Bedarfs abdecken, desto mehr Aufwand muss für deren weiteren Ausbau betrieben werden: Es erfordert mehr Erzeugungskapazität, sprich Wind und Solaranlagen, denn je launiger das Wetter, desto mehr Kraftwerke müssen da sein, damit die Flotte auch bei windschwachen Tagen noch genügend Strom erzeugt. Es erfordert mitunter teure Importe, etwa französischen Atomstroms. Und vor allem erfordert es immense Investitionen in Speicher und den Um- und Ausbau der Netze, die den Windstrom dorthin bringen, wo er gebraucht wird.
An der Frage, ob die ihrerseits nicht eben günstige Atomkraft dabei wirklich helfen kann, scheiden sich die Geister. Eine Alternative wäre Wasserkraft. Aber Deutschland erzeugt nur lächerliche drei Prozent seines Strombedarfs daraus. Bis auf einige wenige sehr wasserreiche Länder mit passender Topografie, wie Österreich, Norwegen, Brasilien oder Kanada, ist die Wasserkraft in den meisten Staaten der Erde ein zu schwacher Kandidat. „Unsere Pfadstudien zeigen, dass ein zu 100 Prozent erneuerbares Stromsystem enorme Investitionen in Speicher und Netze braucht, vor allem die letzten 20 Prozent sind extrem teuer. Für die letzten zehn Prozent kommen wir gar auf Gestehungskosten von mehr als 150 Euro je Megawattstunde Strom, man bräuchte immense Speicherkapazitäten“, sagt McKinsey-Berater Latz.
Den technischen Fortschritt einkalkulieren
Sicher: Speicher dürfte noch erheblich billiger werden. Neue Technologien wie Natrium-Ionen-Zellen oder Redox-Flow-Batterien könnten die Kosten je gespeicherter Kilowattstunde Wind- und Sonnenstrom gegenüber heute mehr als dritteln; doch wie schnell das gehen wird, ist unsicher. Und der Netzausbau bleibt ein Problem: Allein der Umbau der Stromnetze mache bei einem 100 Prozent erneuerbaren Stromsystem je nach Land 40 bis 60 Prozent der gesamten Kosten aus, hat Latz errechnet. „Und am Ende geht es nicht ohne grünen Wasserstoff als Langfristspeicher für den Winter und klimaneutraler Treibstoff für die Gas-Peaker.“ Wie der in den benötigten Mengen zu halbwegs realistischen Kosten erzeugt werden soll, sei völlig unklar.
Allerdings ist eben auch die Atomkraft bisher alles andere als eine günstige Energieform. Es kursieren Hunderte, teils stark widersprüchliche Daten zu den Kosten. Je nach Interessenlage der Autoren schwanken sie zwischen 6 Cent je produzierter kWh und fast dem Vierfachen. Relativ gut belegt sind die Baukosten: In westlichen Industrieländern liegen sie im Schnitt bei etwa 10.000 Dollar je Kilowatt Atomleistung, ein durchschnittlicher neuer Reaktor mit rund einem Gigawatt Leistung also bei 10 Milliarden Dollar. Das klingt astronomisch, relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass ein AKW in der Regel 40 Jahre lang läuft.
Verlässlichste Kennzahl für die Gesamtkosten sind die Levelized Costs Of Energy (LCOE), die sowohl Bau als auch Betrieb inklusive Wartung und Ausfallzeiten berücksichtigen – nicht aber Langfristkosten wie Endlager für den Atommüll, die sind in jedem Land der Erde von den Betreibern auf die Gesellschaft abgewälzt. Auch ohne sie ist der LCOE in den vergangenen Jahren für Atomstrom um 47 Prozent gestiegen; in der gleichen Zeit fielen die LCOE für Solar um 80 und für Wind um 60 Prozent. Die US-Investmentbank Lazard veranschlagt für Atomstrom inzwischen im Schnitt 18 Cent je Kilowattstunde. Damit wäre Kernkraft erstmals die teuerste Stromerzeugungsform überhaupt, noch vor Gas (16,8) und weit vor Wind und Solar. Rechnet man zu den hohen Baukosten noch die lange Bauzeit, im Schnitt dauerte es zuletzt global laut Status Report 9,6 Jahre, bis ein neuer Reaktor ans Netz ging, scheint fraglich, dass die Atomkraft wirklich die günstigere Alternative zu Erneuerbaren plus Speicher und Netzumbau ist.
Es sei denn, es gelänge doch noch ein Durchbruch bei den Reaktoren der neusten Generation, den Small Modular Reactors, kurz SMR. Zuletzt sah es danach nicht unbedingt aus; das hoch gehandelte US-SMR-Startup NuScale musste einen neuen Reaktortyp nach Jahren der Entwicklung einstellen, nachdem die Kosten explodiert und Kunden abgesprungen waren. Dennoch setzen unter anderem Großbritannien, Südkorea, Russland, Frankreich, Kanada und die USA nach wie vor große Hoffnungen in die Technologie.
Der SMR ist keine radikale technische Neuerung, wie etwa der Flüssigsalz- oder Natriumreaktor, an dem Microsoft-Gründer Bill Gates seit langem forschen lässt. Technisch sind SMR normale Druck- und Siedewasserreaktoren der neusten Generation, die nach 1986 als Antwort auf Tschernobyl entwickelt wurde. Die Idee: Statt eines großen Reaktors mit zehn Jahren Bauzeit und zehn Milliarden Dollar Baukosten sollen viele kleinere Reaktoren in Serie in Fabriken vorgefertigt werden. Am Standort würden sie nur noch montiert. Fertigung, Genehmigungsverfahren und Bau würden weitgehend standardisiert. Die Baukosten würden insgesamt erheblich sinken.
Trotz Rückschlägen: Kleinreaktoren bleiben interessant
Bislang ist das nicht der Fall, die wenigen etwa in Russland schon laufenden SMR haben eher doppelt so hohe Baukosten wie ein klassischer, großer Druckwasserreaktor pro erzeugter KWh Strom. Selbst Kernkraftbefürworter wie der langjährige Professor für Nuklaertechnik an der ETH Zürich, Horst-Michael Prasser, sind zurückhaltend: „Die mangelhafte Wirtschaftlichkeit kleinerer Reaktoren war ja der Grund, dass man AKW in den 60ern und 70ern immer größer gebaut hat“, sagt Prasser.
Dieses Mal aber könnte es anders sein, glaubt McKinsey-Partner Latz. Ungeachtet der jüngsten Rückschläge, etwa bei NuScale, „gibt es derzeit außerhalb Russlands und Chinas mindestens vier aussichtsreiche neue SMR-Konzepte“, sagt Latz, die auch im Westen gebaut werden können: Den AP 300 mit 0,3 GW Leistung von Westinghouse, nach wie vor den NuScale-Reaktor, ein gemeinsames Design von General Electric und Hitachi (alle USA) sowie vom britischen Turbinenbauer Rolls Royce. „Wenn es von diesen Vieren nur zwei über die Ziellinie schaffen, könnte das der Gamechanger werden“, hofft Latz. Er gehe davon aus, dass das spätestens 2030 der Fall sein werde.
Latz verweist auf den Umstand, dass es bei neuen Technologien in der Regel eine steile Lernkurve gibt: „Zuletzt gab es in Westeuropa keine intakte Lieferkette und keine ausreichende Forschungslandschaft mehr für Kernenergie, aber noch in den 80ern hatten französische Kraftwerksbauer Lernkurven von über 30 Prozent von Projekt zu Projekt, als die dritte Reaktorgeneration als Reaktion auf Tschernobyl entwickelt wurde.“ Übersetzt heißt das: Bei jedem neuen Kraftwerksbau lagen Bauzeit, Kosten und Fehlerquote um fast ein Drittel unter denen des Projekts davor. Würde man viele kleine SMR in Serie bauen, dann würde sich solch eine Lernkurve natürlich schneller auswirken als in den 80ern, als es große Betonkathedralen mit mehren Jahren Bauzeit waren, die alle einzeln geplant, genehmigt und erstellt wurden.
„Es ist wie immer mit First-of-a-Kind, der erste SMR wird sehr teuer sein und wahrscheinlich Strom zu über 100 Dollar je MWh produzieren“, sagt Latz. Er rechnet jedoch langfristig mit einer Kostenreduktion um 50 Prozent. „Wenn sich drei oder vier europäische Länder zusammentun und die Anfangsfinanzierung absichern, dann wird auch die Supply Chain für Kraftwerksbau wieder entstehen, und dann kommen auch die Kosten runter.“
Und am Ende wäre es somit doch eine politische Entscheidung, keine technische.
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