Von Hubertus Volmer am 9. Juni 2022
Probleme mit russischem Gas? Die Laufzeiten der Kernkraftwerke müssen verlängert werden! Das forderte schon der damalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos von der CSU. Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine müsse allen klargemacht haben, „dass wir es uns nicht erlauben können, auf einen Energieträger zu verzichten“. Das war im Januar 2009.
Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wird die Debatte nicht mehr nur jährlich im Winter, sondern fast monatlich geführt. Die jüngste startete mit einem Zitat von Bundesfinanzminister Christian Lindner in der „Bild“-Zeitung. Ein Überblick.
„Die Menschen erwarten, dass wegen des Klimaschutzes, der Abhängigkeit von Putin und der Inflation alle Möglichkeiten erwogen werden“, wird der FDP-Vorsitzende zitiert. Wirtschaftlich sei er zwar noch nicht überzeugt, dass sich neue Investitionen in Kernkraft wirklich rechneten. „Aber Deutschland darf sich einer Debatte nicht verschließen, die überall auf der Welt geführt wird. Ich rate dazu, die Argumente vorurteilsfrei auf den Tisch zu legen.“
Ähnlich hatte Lindner sich am Dienstag in der Talkshow von Sandra Maischberger geäußert - nicht von sich aus, sondern auf Nachfrage und erst gegen Ende des Interviews. Er sei offen für eine Debatte über die Verlängerung von Laufzeiten, „denn wir müssen unideologisch über Fragen der Energieversorgung sprechen“. Es gehe um Bezahlbarkeit und die Einsparung von CO2-Emissionen. „Wir haben sichere Kernkraftwerke. Allerdings ist es eine Debatte, die man sich nicht zu einfach machen kann. Denn: Wo kommt der Brennstoff für die Kernkraftwerke her, aus welchen Weltregionen?“ Die seien nicht unproblematisch. Kernkraft sei „kein Allheilmittel, aber Ideologiefreiheit mit Sicherheit nötig“.
Der FDP-Chef hat nicht gefordert, die Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke zu verlängern, er hat auch keinen Wiedereinstieg in die Atomkraft gefordert. Es ist anzunehmen, dass Lindner weiß, dass die Diskussion um einen Wiedereinstieg in die Atomkraft in Deutschland vor allem eine Fake-Debatte ist. Dafür sprechen auch eine Reihe älterer Zitate von ihm.
Im März 2011, nachdem die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung ihren nur wenige Monaten alten Beschluss einer Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke gekippt hatte und sich anschickte, einen Atomausstieg zu beschließen, forderte Lindner, seinerzeit FDP-Generalsekretär, ein besonders schnelles Vorgehen. „Wir wollen und werden die Energiewende jetzt stärker in Angriff nehmen müssen.“
Für einen Wiedereinstieg hat er sich seither nicht eingesetzt. Auf einem Parteitag der FDP im April 2019 sagte Lindner zum Thema Atomkraft, „ich glaube, die Messe ist gelesen“. Einer Wiederbelegung der Kernenergie in Deutschland erteilte er auch auf dem Dreikönigstreffen Anfang 2022 eine Absage. Man dürfe nicht verkennen, „dass Kernenergie CO2-frei sein mag, aber alles andere als nachhaltig ist“. Für Deutschland sei „die Kernenergie ohnehin keine Option“.
Seit dem Jahreswechsel sind in Deutschland nur noch drei Atomkraftwerke am Netz: Isar 2 (PreussenElektra), Emsland (RWE) und Neckarwestheim 2 (EnBW). Bis Ende des Jahres sollen auch sie abgeschaltet werden. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatten das Bundeswirtschaftsministerium und das Umweltministerium eine Laufzeitverlängerung geprüft und verworfen.
Zurückhaltend bis genervt. Zur aktuellen Debatte sagte ein Sprecher der RWE AG der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, ein Weiterbetrieb über den 31. Dezember 2022 hinaus „wäre mit hohen Hürden technischer als auch genehmigungsrechtlicher Natur verbunden“. Und er verwies darauf, dass Bundesregierung und Energieminister der Länder noch im März erklärt hätten, dass eine Laufzeitverlängerung keine Option sei, „um die Versorgungssicherheit zu erhöhen und Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland zu reduzieren“.
PreussenElektra teilte dem Bayerischen Rundfunk auf Nachfrage mit, die „immer neuen Vorschläge zu diesem Thema“ nicht weiter kommentieren zu wollen. Ein Weiterbetrieb von Isar 2 sei unter gewissen Voraussetzungen möglich, hierfür brauche es aber ausreichend Vorlauf. Im März hatte das Unternehmen darauf hingewiesen, dass die Lieferung von neuen Brennstäben dauern würde: „Nach einer ersten Abschätzung gehen wir davon aus, dass frische Brennelemente in gut 1,5 Jahren zur Verfügung stehen könnten.“
Die von PreussenElektra angesprochenen anderthalb Jahre beschreiben das Problem: Kurzfristig geht da nichts, zumal die Brennelemente in den drei noch laufenden Anlagen nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums „weitgehend aufgebraucht“ sind.
Eine Verlängerung des Betriebs der drei Kernkraftwerke würde nach Ansicht des Vereins Deutscher Ingenieure eine Herausforderung darstellen. Der VDI nennt unter anderem organisatorische und personelle Gründe: Für die Beschaffung und Einsatzplanung von Brennelementen benötige man normalerweise 18 bis 36 Monate. Über Vorruhestand und Altersteilzeit sei zudem bereits Personal abgebaut worden, sodass unklar sei, „inwieweit und bis wann vertragliche Änderungen oder Personalverschiebungen aus anderen Anlagen einschließlich notwendiger Aus- und/oder Weiterbildung möglich sind“. Und natürlich müsste der Bundestag für eine Laufzeitverlängerung das Atomgesetz ändern. Dafür gibt es seit Jahren schon keine politische Mehrheit.
Der Anteil der Kernenergie am Primärenergieverbrauch in Deutschland ist laut Bundesumweltamt von 12,2 Prozent im Jahr 2005 auf 5,9 Prozent im Jahr 2020 gesunken. Demgegenüber stieg der Anteil der Erneuerbaren im selben Zeitraum von 5,3 Prozent auf 16,5 Prozent. Der Primärenergieverbrauch, unter dem man den Energiegehalt aller in Deutschland eingesetzten Energieträger versteht, verharrt beim Gas dagegen seit Jahren auf relativ hohem Niveau. 2020 lag er bei 26,5 Prozent.
Das ist ein Punkt beim Thema Kernkraft, auf den Lindner bei Maischberger aufmerksam machte, der aber meist unter den Tisch fällt: Etwa 40 Prozent der europäischen Uranimporte stammen aus Russland und dem mit ihm verbündeten Kasachstan, weitere 20 Prozent kommen aus dem afrikanischen Niger. Die deutsche Abhängigkeit von russischem Uran ist wohl noch größer: „In den letzten Betriebsjahren unserer Kraftwerke haben wir das für die Brennelemente benötigte Uran aus Kasachstan und Russland sowie in geringen Mengen aus Kanada bezogen“, sagte eine PreussenElektra-Sprecherin im März.
Kurzfristig sicher nicht. „Man müsste heute aufhören, die Atomkraftwerke zu nutzen, damit wir im nächsten Winter ein paar Kilowattstunden zusätzlich haben“, sagt Mycle Schneider, Herausgeber des „World Nuclear Industry Status Report“ (WNISR), im Interview mit ntv.de. „Mehr ist nicht möglich, weil der Kernbrennstoff fehlt.“
Da hilft ein Blick nach Frankreich. Das Land hat 56 Reaktoren in 18 Kernkraftwerken. Allerdings steht regelmäßig mehr als die Hälfte der Reaktorkapazität nicht zur Verfügung. Das liegt am Alter der Anlagen, an fehlenden Ersatzteilen, an Sicherheitsanforderungen - letztlich am Geld. Denn die Kosten für Kernkraft sind enorm: Allein der Bau verschlingt Milliarden, versichert werden können die Meiler nur, weil die Haftung der Versicherungen künstlich gedeckelt ist - bei einem Unfall springt der Staat ein, der auch den größten Anteil der Kosten für Transporte, Zwischenlager und Endlagersuche bestreitet. Lindner hat völlig recht. Auf dem Dreikönigstreffen sagte er: „Eine Energiequelle, die nur etabliert werden kann, wenn der Staat in die Haftung geht, die zeigt schon marktwirtschaftlich an, dass es sich nicht um eine nachhaltig verantwortbare Energiequelle handeln kann.“
Das wird immer wieder behauptet, aber so ist es nicht. Meist handelt es sich um Ankündigungen, die nicht oder mit großer Verzögerung realisiert werden. „Was wir aktuell noch haben, ist im Grunde genommen eine Situation der Technologie-Geriatrie“, sagt Schneider. „Es wird viel Geld in Laufzeitverlängerungen gesteckt, aber das ist nicht nachhaltig. Im Grunde genommen zögert man das Ende dieser Technologie nur hinaus.“
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