von Catiana Krapp, Silke Kersting, Klaus Stratmann, Dietmar Neuerer, Daniel Delhaes und Arno Schütze • am 6. Dezember 2023
Dubai, Berlin, Düsseldorf. Bei der Atomkraft gibt es aktuell widersprüchlich erscheinende Entwicklungen. Laut dem am Mittwoch veröffentlichten World Nuclear Industry Status Report ist der Atomstromanteil an der weltweiten Stromproduktion 2022 auf neun Prozent gesunken. Der Rückgang ist so stark wie im Jahr nach der Fukushima-Katastrophe von 2011.
Doch bald schon könnte die Bilanz anders ausfallen: Auf der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai erklären gerade zahlreiche Staaten, ihre Investitionen in Atomkraft massiv ausbauen zu wollen.
So entstehen gerade zwei verschiedene Perspektiven auf die Entwicklung der Atomkraft. Auf der einen Seite steht die Debatte in Deutschland. Bei den Grünen beispielsweise sieht man den Report als Bestätigung für die Probleme der Atomkraft.
Der Bundestagsabgeordnete Harald Ebner (Grüne), der dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz vorsitzt, sagte dem Handelsblatt: „Der Bericht ist ein wichtiger Faktencheck in fake-news-Zeiten. Er räumt auf mit der fälschlicherweise ständig wiederholten Behauptung von der Rückkehr der Atomkraft.“ Die Kapazitäten der Erneuerbaren Energien seien 80-mal stärker ausgebaut worden als die für Atomkraft.
Auf der anderen Seite kommt in einigen Bereichen der Welt eine gegenteilige Strömung. In Dubai haben zu Beginn dieser Woche 22 Staaten erklärt, bis 2050 die Atomkraftwerkskapazitäten verdreifachen zu wollen und internationale Finanzinstitutionen aufgerufen, in die Atomkraft zu investieren.
Vor Ort gab wurde dafür teilweise eine Bereitschaft signalisiert. Der Sprecher eines großen Vermögensverwalters, der anonym bleiben möchte, berichtete dem Handelsblatt: „Auf der COP28 gibt es dieses Jahr viel Schwung für die Kernenergie, das fühlt sich ganz anders an als noch vor ein paar Jahren.“ Er sagte: „Wir halten Atomkraft für unglaublich wichtig für die Emissionsreduktion.“ Man habe kürzlich entsprechende Unternehmen in einen Fonds aufgenommen.
Es scheinen zwei verschiedene Welten zu sein. In Deutschland wird das Thema Atomkraft nach wie vor vorsichtig bis kritisch betrachtet. Stefan Wenzel, parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, sagte dem Handelsblatt: „Die Nuklearindustrie hat Probleme mit der Brennstoff-Versorgung aufgrund der Abhängigkeit von Russland – auch für den laufenden Betrieb ohne Zubau.“ Das gelte besonders für sogenannte Small Modular Reactors (SMR).
Simon Müller, Direktor der Denkfabrik Agora Energiewende, sagte: „Die wesentliche Herausforderung der europäischen Kernenergie für die Klimaziele ist eine immer älter werdende Flotte von Kernkraftwerken, deren Erzeugung in den kommenden Jahren durch Neuinvestitionen oder Erneuerbare Energien ersetzt werden muss.“
Der Zubau in Europa laufe extrem schleppend und kostspielig. In diesem Jahr sei mit dem dritten Block des finnischen Kernkraftwerks Olkiluoto erstmals seit 20 Jahren ein neuer Reaktor in Betrieb gegangen.
Müller verweist zudem auf das Atomkraftwerk Flamanville in Frankreich, dessen Block 3 inzwischen über zehn Jahre Bauzeitverzug habe. Die Kosten hätten sich gegenüber den ursprünglich geplanten 3,3 Milliarden Euro mehr als vervierfacht.
Und für Marcel Fratzscher, Präsident des Wirtschaftsinstituts DIW, sind die Kosten relevant: „Die Kernenergie ist eine extrem teure Energie, sie ist und wird auch in der Zukunft sehr viel teurer bleiben als erneuerbare Energien.“
Auch die Opposition in Deutschland positioniert sich eher zurückhaltend zur Atomkraft. Die CDU hat in der Nacht auf Mittwoch den Entwurf ihres Grundsatzprogramms beraten. Sie will auf Technologien und Innovationen setzen, wozu auch der Einsatz von Wasserstoff ebenso wie die CO2-Abscheidung und das mögliche Potential Kernfusionsreaktoren gehöre.
Von der Partei heißt es: „Wir befürworten die Fortsetzung der Forschung und Entwicklung der Kernenergie der nächsten Generation.“ Eine Aussage über eine konkrete Nutzung von Atomkraft in Deutschland trifft die CDU damit nicht.
Bei Unternehmen in Deutschland wächst die Sorge, dass Deutschland sich künftig nicht mehr stabil mit bezahlbarem Strom versorgen kann. Dominik von Achten, Chef des Baustoffkonzerns Heidelberg Materials, sagte: „Wenn wir von Kohle- noch Atomstrom wegwollen und gleichzeitig bei den Gaskraftwerken nicht vorwärtskommen, dann wird der Strompreis unkalkulierbar hoch bleiben.“
So entsteht eine scheinbare Diskrepanz zwischen der deutschen Haltung zur Atomkraft und weltweiten Entwicklungen. Für Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamts, ist „Atomenergie eine Technologie der Vergangenheit“. Aber der Vorstoß der 22 Staaten auf der Weltklimakonferenz sei trotzdem kein Rohrkrepierer. „Es ist eine starke Allianz, die sich da gebildet hat.“
Woran liegt es, dass eine erneute Nutzung von Atomkraft in Deutschland so ausgeschlossen erscheint, während andere Teile der Welt jetzt so gezielt darauf setzen?
„Wenn ein System wie in Deutschland künftig stark auf erneuerbaren Energien basiert, braucht man möglichst flexible Kraftwerke, die einspringen können, wenn gerade wenig Sonnen- und Windstrom im Netz ist, sagt der Klimaexperte Jens Burchardt von der Unternehmensberatung BCG. „Gaskraftwerke können das.“
Atomkraftwerke müssten hingegen eher in Grundlast betrieben werden. Sie müssen durchgehend laufen und erzeugen auch Strom, wenn ohnehin schon sehr viel grüner Strom vorhanden ist. Der Atomausstieg Deutschlands im vergangenen Jahr habe nicht viel an der Notwendigkeit verändert, in großem Stil neue Gaskraftwerke zu bauen.
Dennoch kommen andere Staaten offenbar zu anderen Schlüssen – für Burchardt nicht gänzlich unverständlich. Er erklärt das mit unterschiedlichen Voraussetzungen. „In China sind die Kosten für Atomkraftwerke vermutlich deutlich niedriger als hier. Das liegt an niedrigeren Arbeits- und Materialkosten, Sicherheitsstandards, aber auch deutlich größerer Erfahrung mit dem Bau dieser Kraftwerke und damit schnelleren Umsetzungszeiten. Das macht Kernkraft in China wettbewerbsfähiger mit Erneuerbaren als bei uns.“
Die Chinesen hätten weit mehr Erfahrung beim Bau von Atomkraftwerken als die Europäer, die in den vergangenen Jahrzehnten kaum neue Kernkraftwerke bauten.
Zugleich sei in Schwellenländern der Druck höher, mit allen verfügbaren Mitteln Strom für die wachsende Stromnachfrage in der Bevölkerung zu erzeugen. Und erneuerbare Energien seien nicht überall gleich einfach zu realisieren.
„Andere Länder haben schwierigere Bedingungen für Erneuerbare als wir. Südkorea hat beispielsweise auf ihrer Halbinsel wenig Platz. Das kann auch ein Grund sein, auf Atomkraft zu setzen“, so Burchardt.
Für den BCG-Experten dürfte die Atomkraft in der globalen Energiewende nicht der zentrale Faktor sein: „In „Net-Zero Szenarien“ hat die Atomkraft in 2050 maximal einen Anteil von unter zehn Prozent an der weltweiten Stromerzeugung.“ Das sei substantiell, aber ein deutlich schnellerer Ausbau der Erneuerbaren sei erheblich wichtiger.
Die Chefin des Energiebranchenverbands BDEW, Kerstin Andreae, erklärt den Pragmatismus in der nationale Debatte: „In Deutschland ist die Entscheidung zum Atomausstieg gefallen.“ Die Bundesregierung müsse sich jetzt mit aller Kraft den notwendigen Entscheidungen für eine sichere, bezahlbare und klimafreundliche Energieversorgung widmen. Dazu gehöre auch dringend eine Grundlage für den Aufbau von neuen Gaskraftwerken.
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