von Stefanie Pack-Homolka Veröffentlich am 10. März 2021
Vor zehn Jahren war der Schock über die Katastrophe von Fukushima groß. Heute wird in 17 Ländern an neuen Atomkraftwerken gebaut.
Stephanie Pack-Homolka Wien. Angela Merkel war schnell entschlossen – aber eine Ausnahme. „Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, sagte die deutsche Kanzlerin nur Tage nach dem Reaktorunfall von Fukushima und kündigte den deutschen Atomausstieg bis Ende 2022 an. Trotz aller Sympathie für die Entscheidung in der Bevölkerung war diese auch umstritten. Denn nur Monate zuvor hatte die Regierung den Betreibern der Kraftwerke eine Laufzeitverlängerung zugesichert. Was folgte, war ein langer Rechtsstreit. Vergangene Woche wurde er beigelegt. Das Ergebnis: 2,43 Milliarden Euro Entschädigung für die Unternehmen RWE, Vattenfall, EnBW und Eon/Preussen Elektra.
Der konsequente Atomausstieg Deutschlands als Folge von Fukushima blieb ein Unikum. Zwar wurden die Skeptiker vor allem in Europa mehr: Italien verzichtete auf den Wiedereinstieg in die Atomkraft, Belgien und die Schweiz auf den Bau neuer Kraftwerke, die alten hängen aber bis zum Ende ihrer Laufzeiten am Netz. Grundsätzlich blieben die Lager der Atomgegner und der Befürworter in der EU aber wie vor der Katastrophe erhalten.
Laut EU-Statistikbehörde Eurostat kamen 2019 26,4 Prozent des Stroms in der EU aus Atomkraft, in 13 der 27 Länder gibt es Kraftwerke. Knapp ein Viertel der weltweiten Reaktoren steht in der EU. Die meisten davon in Frankreich, wo Atomenergie rund 70 Prozent der gesamten Stromproduktion ausmacht. 56 Reaktoren sind in Frankreich derzeit am Netz, über den Bau von weiteren soll erst nach der Präsidentschaftswahl 2022 entschieden werden. Zur Kontroverse trägt bei, dass der zum Großteil im Staatsbesitz befindliche Stromerzeuger EDF schon jetzt auf einem riesigen Schuldenberg sitzt – und dieser wegen der Instandhaltung mehrerer maroder Atomkraftwerke und der Beteiligung am britischen AKW Hinkley Point auch ohne neue Projekte weiter wächst.
Weltweit gibt es derzeit 408 Reaktoren, die ans Stromnetz angeschlossen sind. Sie stehen in 31 Ländern der Welt, wie aus dem World Nuclear Industry Status Report 2020 (WNIS) hervorgeht, der jährlich von dem deutschen Energie- und Atompolitikberater Mycle Schneider herausgegeben wird. Den höchsten Stand an Reaktoren gab es laut dem Bericht 2002, damals waren es 439 Reaktoren.
2019 wurden fünf Reaktoren geschlossen, in der ersten Jahreshälfte 2020 waren es drei weitere.
2019 gingen aber auch 13 neue Reaktoren ans Netz, drei davon in Russland, einer in China und einer in Südkorea. Momentan befinden sich mehrere weitere Atomkraftwerke im Bau – mitunter seit vielen Jahren. Diese liegen in 17 verschiedenen Ländern, insgesamt geht es um 52 Reaktoren. Die meisten davon liegen in China (15), Indien (7), Südkorea (4), den Vereinigten Arabischen Emiraten (4) und Russland (3). Gebaut wird auch in Bangladesch, Weißrussland, Pakistan, der Slowakei (allerdings schon seit 1985), in der Türkei, in Großbritannien, den USA, in Argentinien, Finnland, Frankreich, dem Iran (schon seit 1976) und in Japan.
Einsteiger in die Atomkraft sind von diesen Ländern die Türkei, Bangladesch, Weißrussland und die Vereinigten Arabischen Emirate, wo bereits ein Reaktor ans Netz ging. Über die laufenden Projekte hinaus gibt es vor allem in China Pläne: 20 neue Reaktoren sollen binnen 15 Jahren ans Netz gehen, wurde eben beim Volkskongress beschlossen.
Die derzeit laufenden Bauprojekte für Reaktoren bedeuten aber längst noch keine Renaissance der Atomkraft. Mycle Schneider rechnet in seinem Bericht vor: Wenn alle derzeit aktiven Atomkraftwerke bis zum Ende ihrer Laufzeit in Betrieb blieben und gleichzeitig alle im Bau befindlichen wie geplant fertiggestellt würden, produzierten diese Kraftwerke trotzdem schon Ende 2030 weniger Energie als derzeit. Allein um den Status quo aufrechtzuerhalten, müssten weitere 135 Reaktoren ans Netz gehen.
Der Status quo ist folgender: Derzeit hält die Atomenergie im weltweiten Energiemix einen Anteil von rund zehn Prozent, und dieser stagniert seit Jahren. Dass er in absehbarer Zeit drastisch steigen wird, ist unrealistisch. Das zeigt nicht nur das Szenario von Schneider, sondern auch ein Blick auf die Investitionen im Energiesektor. Die gehen derzeit vor allem in erneuerbare Energien, wohin zehn Mal mehr Geld fließt als in Nuklearenergie.
Dass es an privaten Investoren in der Atomkraft mangelt, liegt auch daran, dass die Projekte lange nicht lukrativ sind. Die Baukosten sind immens, weshalb die Errichtung in der Regel staatlich subventioniert ist. Auch die Erhaltung ist teuer – in einem Atomkraftwerk müssen beispielsweise rund um die Uhr Dutzende spezialisierte Mitarbeiter anwesend sein, was hohe Personalkosten verursacht.
Trotzdem setzen auch Länder wie die USA weiter auf Atomkraft. Präsident Joe Biden erwähnte sie sogar in seinem Wahlprogramm zum Klimawandel: Man müsse alle Technologien mit niedrigen oder keinen Emissionen bedenken, heißt es dort. Die Hoffnung liegt vor allem auf „kleinen modularen Kraftwerken“ (SMR). Deren Erforschung unterstützt die Biden-Administration. Unter anderem wird das Unternehmen TerraPower mitfinanziert, dessen Hauptinvestor Bill Gates ist.
Die Minikraftwerke sollen günstiger und schneller baubar sein und weniger Risiko bergen. Allerdings, heißt es im World Nuclear Industry Status Report, der mehrere SMR-Projekte seit Jahren verfolgt, gebe es zurzeit keine Anzeichen für einen technologischen Durchbruch.