Aktionäre der Atomkonzerne erleben Super-GAU
Wirtschaftsblatt, 29. Februar 2016, 07:02, von Manfred Haider
2015 wurden so viele Atomkraftwerke in Betrieb genommen wie seit 1990 nicht mehr. Doch diese Daten täuschen. In Wahrheit steckt die Branche in einer tiefen Krise.
WIEN. Fünf Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima hat Japan in der Vorwoche trotz Protesten einen vierten Reaktor wieder hochgefahren. Klingt ganz nach Aufbruchsstimmung in der Branche. Tatsächlich sind 39 der insgesamt 43 Reaktoren des Landes weiter nicht in Betrieb.
Nicht täuschen lassen sollte man sich auch davon, dass 2015 weltweit zehn Kraftwerke in Betrieb genommen wurden, und damit so viele wie seit 1990 nicht mehr. „Das ist eine außergewöhnlich hohe Zahl von Inbetriebnahmen, allerdings sind die Vorlaufzeiten relativ lang“, sagt Mycle Schneider, Hauptautor und Herausgeber des anerkannten „World Nuclear Industry Status Report“. Das heißt, der Baustart der Reaktoren, die 2015 in Betrieb genommen wurden, war bereits vor Fukushima. „China ist das einzige Land, das massiv in Atomkraft investiert“, sagt Schneider. Etwa 40 Prozent der Baustellen seien in China. Und das, obwohl China ähnlich wie Deutschland nach Fukushima radikale Maßnahmen gesetzt und vier Jahre lang keine neuen Genehmigungen mehr erteilt hatte.
Auch China bremst
Dies führte dazu, dass es von 2011 bis 2015 in China insgesamt nur 13 neue Baustellen gab. Diese wurden vor Fukushima genehmigt. 2010 waren es noch zehn in einem einzigen Jahr.
Der niedrige Ölpreis spielt dabei kaum eine Rolle, denn die Verbindung von Öl und Atomstrom war nie sehr eng. In Frankreich zum Beispiel, das sein Atomprogramm 1974 lanciert hat, lag im Jahr der Ölkrise 1973 der Anteil des Öls an der Stromerzeugung bei unter 13 Prozent. Ob man diese 13 Prozent substituiert, was die Franzosen gemacht haben, sei längerfristig kaum relevant für Öl, so Schneider. Aber auch die Rolle der Atomkraft im weltweiten Strommix in der kommerziellen Stromproduktion sinkt seit Jahren. Mitte der 1990er-Jahre lag der Anteil bei 17,5 Prozent, heute beträgt er elf Prozent. Bezogen auf kommerzielle Primärenergie sind es gar nur 4,5 Prozent.
Fünf große Anbieter
Im Neubau von Atommeilern sind de facto nur fünf Anbieter aktiv: die russische Rosatom, China National Nuclear Corporation sowie die börsenotierten Unternehmen Toshiba (über die Tochter Westinghouse), CGN (China General Nuclear Power) und die französische Areva. Die Toshiba-Aktie ist zwar ebenfalls auf Talfahrt, hier spielen aber auch die Probleme in der japanischen Elektronikindustrie mit hinein.
Die Areva-Aktie ist seit dem Hoch bei mehr als 80 € auf 3,70 € gefallen. Am Donnerstag wurde die Aktie sogar vom Handel ausgesetzt und die Bekanntgabe der Zahlen wurde auf Freitag verschoben. 2015 verbuchte der staatlich kontrollierte Atomkonzern erneut einen Milliardenverlust. Im Vergleich zum Vorjahr wurde 2015 der Verlust zwar von 4,8 auf 2,0 Milliarden € eingedämmt, aber die Enttäuschung war neuerlich groß. CEO Philippe Knoche sprach hingegen von einem Fortschritt und erklärte, die Hälfte des Verlusts gehe auf Rückstellungen für den Konzernumbau und Abschreibungen zurück. Bis 2017 sollen bis zu 6000 Stellen wegfallen, es ist eine Kapitalerhöhung über fünf Milliarden € geplant und der ebenfalls mehrheitlich dem Staat gehörende Energieversorger EDF soll das Atomreaktorgeschäft von Areva übernehmen.
Dabei ist die EDF-Aktie selbst schwer unter Druck. Seit 2008 ist die Aktie von gut 80 € auf unter zehn € gefallen. EDF betreibt laut Schneider alle Atomkraftwerke in England und kontrolliert sogar den Großteil des dortigen Strommarktes. EDF ist auch am geplanten Neubau des Atomkraftwerks Hinkley Point in England beteiligt. Es ist seit mehr als zwei Jahrzehnten das erste AKW in Großbritannien, das neu gebaut werden soll. Laut Schneider sei es nicht ausgemacht, dass es überhaupt jemals in Betrieb geht. Es gäbe Belege dafür, dass 92 Atomkraftwerke in verschiedenen Baustadien storniert worden sind.
Insgesamt sind laut IAEO weltweit 442 Atomkraftwerke in Betrieb, wobei dabei alle 43 japanischen Reaktoren mitgezählt wurden. Tatsächlich sind es laut Schneider nur rund 400. Da das Durchschnittsalter aller Kernkraftwerke bei 30 Jahren liegt, sind die Betriebskosten entsprechend hoch. In Frankreich hat der Rechnungshof festgestellt, dass die Produktionskosten für Atomstrom allein von 2010 bis 2013 um 20 Prozent gestiegen sind. Inzwischen ist der europäische Strompreisverfall derart massiv, dass selbst amortisierte Akw keinen Strom mehr produzieren können, der mit dem Großhandelspreis mithalten kann.
Im Falle der Stilllegung fallen hingegen Milliardenkosten an, wovon auch die deutschen Versorger RWE und Eon ein Lied singen können. Der staatlich geförderte Solar- und Windstromausbau sorgte für zusätzlichen Druck auf die Strompreise. Jetzt hoffen die Versorger und deren Aktionäre, dass der Staat teilweise Kosten, etwa für End- und Zwischenlagerung, übernimmt und Risiken begrenzt werden.
(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 29.02.2016)