Andreas Menn • 03. März 2023
Wasserstoff ist ein farbloses Gas – doch Energieexperten haben viele bunte Bezeichnungen dafür gefunden: Aus Erdgas und CO2-Abscheidung hergestellter Wasserstoff ist blau, aus Ökostrom gewonnener grün, der aus Atomstrom rot.
In Brüssel ist über diese Farbenlehre nun ein heftiger Streit entbrannt: Frankreich drängt die EU, Atomstrom und daraus erzeugten Wasserstoff als nachhaltig einzuordnen. Roter Wasserstoff soll so behandelt werden wie grüner.
Geht es nach Frankreich, soll das in der Neufassung der Erneuerbaren-Energien-Richtlinie besiegelt werden, die frühestens Ende März beschlossen wird. Deutschland, Österreich und Spanien sind dagegen. Kernkraft sei keine erneuerbare Energie, lautet der Einwand aus dem Bundeswirtschaftsministerium in Berlin. Schließlich verbrauchen Atomkraftwerke Uranbrennstoff.
Mit einer Atomallianz, der sich zehn europäische Länder angeschlossen haben, machte Frankreich am Dienstag weiter Druck. „Sie versuchen, die Atomkraft überall dorthin zu bringen, wo sie nicht hingehört, (…) um die Politik festzulegen“, zitiert das Magazin Politico einen EU-Diplomaten, der anonym bleiben wollte. „Jeder ist ein wenig verärgert über die Franzosen – es ist sehr aggressiv.“
Es ist ein Streit, der auch die Industrie selbst entzweit. Auf der einen Seite haben sich Anhänger der Atomenergie, mehr als 50 Unternehmen, NGOs und Forschungsinstitute, zu einer Nuclear Hydrogen Initiative zusammengeschlossen, um den roten Wasserstoff zu fördern. Darunter ist auch der französische Reaktorhersteller Framatome.
„Die Kernenergie ist eine leistungsstarke Methode der Wasserstofferzeugung“, wirbt der Verband. „Kernkraftwerke sind kohlenstofffrei, liefern sehr stabil Energie und benötigen im Vergleich zu erneuerbaren Energien nur minimale Landressourcen.“ Weil Atomkraftwerke auch Hitze produzieren, lasse sich damit Wasserstoff per sogenannter Hochtemperaturelektrolyse besonders effizient herstellen.
Ganz andere Töne schlägt die Renewable Hydrogen Coalition an, ein Interessenverband der Erzeuger grünen Wasserstoffs mit Sitz in Brüssel. „Kohlenstoffarmer Wasserstoff aus nuklearen oder fossilen Energien ist nicht erneuerbar“, heißt es von den Lobbyisten, „und hat keinen Platz in der Erneuerbare-Energien-Richtlinie.“
Im aktuellen Entwurf der Richtlinie hat sich Frankreich schon teilweise durchsetzen können: Demnach können Wasserstoffhersteller künftig einen Teil ihres Stroms aus dem französischen Netz beziehen. Aufgrund des hohen Anteils an Atomstrom gilt der nämlich als „kohlenstoffarm“.
Ibrahim Dincer, Professor für Maschinenbau an der Ontario Tech University, hält das für gerechtfertigt. „Nuklearer Wasserstoff ist so grün wie erneuerbarer Wasserstoff, das zeigen unsere Studien zur Lebenszyklusanalyse“. Die CO2-Emissionen von Atomenergie und Solarstrom sind den Forschern zufolge auf ähnlichen Niveau. „Daher betrachte ich nuklearen Wasserstoff als grünen Wasserstoff. Andere Farbcodes, wie rosa oder gelb oder andere, ergeben keinen Sinn.“
Dincer rechnet damit, dass künftig viele neue Atomkraftwerke gebaut werden, um Strom und damit auch Wasserstoff herzustellen – darunter auch viele sogenannte Small Modular Reactors. Diese geplanten kleineren Kernkraftwerke sollen sich in Fabriken vorfertigen lassen, preiswerter und sicherer sein als heutige Anlagen, versprechen die Hersteller.
Oliver Powalla, Leiter Energiepolitik beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), sieht das anders: „Wasserstoff aus Atomkraft als nachhaltig zu etikettieren ist der Versuch, alte Technologien unter einem neuen Mantel auf den Markt zu bringen und eine Förderung dafür zu erhalten“, sagt Powalla. „Fehlende sichere Endlager, die Gefahr eines Super-GAUs – die Argumente gegen die Atomkraft sind geblieben. Sie werden auch mit den geplanten Small Modular Reactors nicht ausgeräumt.“
Ähnlich äußerte sich schon vor einer Weile das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) in einer Stellungnahme: „Aus fachlicher Sicht ist die Einordnung von Atomkraft als nachhaltige Form der Energieerzeugung nicht haltbar“, erklärte BASE-Präsident Wolfram König. „Die Atomenergie ist eine Hochrisikotechnologie, erzeugt Abfälle und birgt die Gefahr des Missbrauchs von radioaktivem Material für terroristische und kriegerische Zwecke.“
Nicht nur die Nachhaltigkeit der Atomkraft wird stark in Zweifel gezogen, sondern auch, wie viel Atomstrom künftig überhaupt für die Wasserstoffproduktion zur Verfügung steht. In einem Bericht des französischen parlamentarischen Büros zur Bewertung wissenschaftlicher und technologischer Entscheidungen heißt es, 400 neue Atomkraftwerke mit einer Leistung von je einem Gigawatt müssten gebaut werden, um den aktuellen weltweiten Bedarf von 70 Millionen Tonnen Wasserstoff zu decken.
Das sei eine „trügerische Perspektive“, heißt es weiter in dem Bericht, „vor allem in einer Zeit, in der mehrere Länder, darunter auch wir, den Anteil der Kernenergie an ihrem Energiemix reduzieren.“ Aktuell sind weltweit gut 400 Atomreaktoren in Betrieb, die zehn Prozent des weltweiten Strombedarfs decken.
„Der Bau eines neuen Kernkraftwerks dauert mindestens fünf Jahre, so dass Kapazitätssteigerungen in naher Zukunft unwahrscheinlich sind“, heißt es beim norwegischen Energiemarktforscher Rystad Energy, „was bedeutet, dass der Sektor einen Kapazitätsrückgang aufgrund der jüngsten Abschaltungen erleben wird.“
Die tatsächlichen Bauzeiten sind deutlich länger als fünf Jahre: „Zehn Länder haben im Zeitraum von 2012 bis 2021 zusammen 62 Reaktoren fertiggestellt, mit einer durchschnittlichen Bauzeit von 9,2 Jahren“, heißt es im World Nuclear Industry Status Report, einem jährlichen Expertenbericht zum Status der Atomindustrie.
In Frankreich hat sich der Bau eines neuen Reaktors am Standort Flamanville von geplanten fünf Jahren auf inzwischen 17 Jahre verzögert. Statt 3,3 Milliarden Euro soll er nun 13,3 Milliarden kosten – ohne Finanzierungskosten. Ob er wie geplant im Jahr 2024 in Betrieb geht, ist noch offen. „Die französische Atomindustrie bekommt es nicht fertig, einen einzigen Reaktor zu bauen“, sagt Mycle Schneider, Berater für Energie- und Atompolitik und Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report.
Auch die neuartigen kleinen modularen Reaktoren lassen auf sich warten. In den USA soll das erste SMR-Kraftwerk von NuScale erst im Jahr 2029 starten. Bis dahin sind weltweit bereits hunderte Gigawatt an grünen Wasserstoffprojekten geplant. „Wir müssen in den nächsten zehn Jahren die grüne Wasserstoffproduktion massiv hochskalieren“, sagt BUND-Energieexperte Powalla. „Die Planungszeit für neue Atomkraftwerke ist dafür viel zu lang.“
Auch die bestehende Flotte macht massive Probleme: In Frankreich war im vergangenen Jahr die Hälfte der Atomkraftwerke außer Betrieb – Korrosion und andere technische Probleme zwangen den Energiekonzern EDF zu umfangreichen Wartungsarbeiten. Mangels eigener Stromproduktion wurde das Land zum Nettostromimporteur, EDF schrieb Rekordverluste in Höhe von 17,9 Milliarden Euro.
Regierungschef Emmanuel Macron setzt trotzdem auf die Atomkarte – bis zum Jahr 2050 will er 14 neue Atomkraftwerke in Frankreich errichten. Die Frage ist, ob das überhaupt noch zu schaffen ist – Projekte wie das Kraftwerk Hinkley Point in Großbritannien und Olkiluoto 3 in Finnland haben sich um Jahre verzögert. Das finnische Kraftwerk war erst nach 17 Jahren am Netz und hat nun schon beim Start technische Probleme.
Fraglich ist auch, ob sich roter Wasserstoff rechnen wird. Die Nuclear Energy Agency der OECD rechnet in einer Studie zwar vor, Wasserstoff aus bestehenden Atomkraftwerken könne etwas billiger sein als der aus großen Solarkraftwerken im nahen Osten oder Nordamerika. Doch die Rechnung basiert auf Stromgestehungskosten von 32 Dollar pro Megawattstunde und einer Jahresauslastung der Atomkraftwerke von 90 Prozent.
In Frankreich aber produzierten die Reaktoren im Jahr 2021 im Schnitt an 104 Tagen überhaupt keinen Strom. Und der französische Rechnungshof setzt die Kosten für das Jahr 2019 je nach Berechnungsweise zwischen umgerechnet 44,5 und 69 Dollar an. Soll die Laufzeit der weitgehend schon sehr alten Reaktoren verlängert werden, müssten aufgrund der Instandsetzungsarbeiten noch einmal weitere Kosten dazu gerechnet werden.
Die Kosten für Wasserstoff aus neugebauten Reaktoren stuft die OECD etwa auf dem Niveau von Wasserstoff aus europäischen Solarkraftwerken oder Offshore-Windkraft ein. Dabei geht sie aber von erstaunlich niedrigen Stromgestehungskosten zwischen 42 und 65 Dollar pro Megawattstunde aus. Die Investmentbank Lazard rechnet dagegen mit 131 bis 204 Dollar pro Megawattstunde, die Energieexperten von Bloomberg New Energy Finance kommen im Schnitt auf 167 Dollar.
Preiswerter soll künftig der Strom aus den geplanten neuen kleinen Reaktoren werden, die Start-ups nun planen – doch ob die Technik ihr Versprechen hält, ist noch offen. Das US-Start-up NuScale schraubte kürzlich die erwarteten Produktionskosten pro Megawattstunde nach oben – von 58 Dollar auf 89 Dollar.
Zum Vergleich: Strom aus größeren Solarkraftwerken kostet laut Lazard 28 bis 41 Dollar, Windstrom 26 bis 50. Und die Kosten sinken: In Spanien wurden erste Solarstromverträge für unter 15 Euro abgeschlossen, in Wüstenstaaten wie Saudi-Arabien für rund 10 Dollar. „Atomkraft ist die teuerste Form der Stromerzeugung“, sagt Energie- und Atompolitikberater Schneider. „Damit einen teuren Energieträger wie Wasserstoff zu erzeugen, ist unsinnig.“
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