von Silvan Haenni • am 10. Dezember 2023
Darum gehts• Der Anteil von Atomstrom im internationalen Strommix ging im vergangenen Jahr zurück.• Doch 22 Staaten bekräftigten ihr Bestreben, künftig mehr in Strom von Kernkraftwerken zu investieren.• In der Schweiz ist der Ausbau der Kernkraft-Infrastruktur verboten – aber kein Tabu mehr.
Verliert Atomenergie an Strahlkraft? Der atomkritische deutsche Energieexperte Mycle Schneider und ein Team von internationalen Experten untersuchen regelmässig, wie sich die Nutzung von Kernkraftenergie entwickelt. Der jüngst veröffentlichte «World Nuclear Industry Status Report 2023» zeigt: Die weltweite Produktion von Atomstrom ist zurückgegangen.
Die absolute Zahl der laufenden Kernkraftwerke ging innerhalb eines Jahres um vier zurück, die Produktion von Atomstrom insgesamt um vier Prozent. Im Vorjahr gabs noch eine Steigung von sechs Prozent.
Der globale Marktanteil von Atomstrom reduzierte sich derweil auf neun Prozent. «Es ist ein dramatischer Rückgang», kommentiert Schneider, «vergleichbar mit der Entwicklung nach der Katastrophe in Fukushima 2011.»
Gemäss Schneider sind in erster Linie die hohen Planungs- und Baukosten für den Rückgang verantwortlich. Diese führten oft zu Verzögerungen und Abbrüchen von AKW-Projekten. Ausserdem gibt es weltweit immer wieder grössere Produktionsausfälle wegen Wartungsarbeiten – wie dies zum Beispiel dieses Jahr in Frankreich der Fall war. Hinzu kommen der Atomausstieg Deutschlands und der Krieg in der Ukraine.
Allerdings dürfte der Anteil an Strom aus Kernkraftwerken im globalen Strommix künftig wieder steigen. Erst am Samstag haben im Rahmen der Weltklimakonferenz in Dubai 22 Staaten eine Erklärung veröffentlicht, ihre Energieerzeugung aus Atomkraft deutlich hochzuschrauben. Bis zum Jahr 2050 sollten die Kapazitäten verdreifacht werden, heisst es im Dokument, das unter anderem Frankreich, die USA und Grossbritannien mitunterschrieben haben.
Man halte fest, dass Atomkraft eine Schlüsselrolle dabei spiele, bis Mitte des Jahrhunderts Klimaneutralität zu erreichen. Das gilt auch für das 1,5-Grad-Ziel, mit dem die Weltgemeinschaft die schlimmsten Folgen der Erderwärmung verhindern will.
Also mit Atomstrom gegen Klimawandel? «Ja!», bekräftigt Lukas Aebi, Geschäftsführer der atomfreundlichen Organisation «Schweizer Nuklearforum». Ohne Atomkraft sei das Netto-Null-Ziel 2050 schlicht nicht zu erreichen. Am klimafreundlichsten sei eine Kombination von verschiedenen CO2-armen Energiequellen, also allen erneuerbaren und Kernenergie.
Ein Praktikabilitätsproblem von Atomenergie sieht Aebi trotz regelmässiger Ausfälle nicht: «Die Kernenergie an sich ist schon lange etabliert und praktikabel, sie hat ihren Leistungsnachweis längst erbracht.» Die neuen Reaktortypen, die auf bestehender Technologie aufbauen und aktuell gebaut werden, würden zudem noch sicherer werden.
Die atomkritische «Energiestiftung Schweiz» sieht das anders. Es bestünde keine «Wahl der Qual» zwischen Atomenergie und Klimawandel, stellt Mediensprecher Markus Unterfinger klar: «Wir können mit Sonne und Wind wie bereits mit Wasserkraft eine sichere, unabhängige und klimaschonende Energieversorgung bis 2035 sicherstellen, wie das das neue Stromgesetz nun aufgleist – oder weiterhin von Öl, Gas und Uran aus Russland und anderen (Schurken-)Staaten abhängig sein.»
Unterfinger meint, dass der Bedarf an fossilen Energieträgern künftig noch weiter zunehmen werde. Jetzt auf Kernenergie zu setzen, sei zu spät: «Neue AKWs gehen, wenn überhaupt, erst in 20-25 Jahren ans Netz und kommen viel zu spät, um den Klimawandel zu stoppen.» Zurzeit scheint nur China in der Lage zu sein, in weniger als zehn Jahren ein Kernkraftwerk zu realisieren.
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