4 December 2021

Deutsche Welle (Germany)

Was steckt hinter Frankreichs Plänen für Mini‑Atomreaktoren?

Frankreich plant in eine neue Technologie kleinerer Atomkraftwerke zu investieren. Doch Experten bezweifeln, dass die Meiler ökologisch und wirtschaftlich sinnvoll sind.
Source : Deutsche Welle: Was steckt hinter Frankreichs Plänen für Mini-Atomreaktoren? https://www.dw.com/de/was-steckt-hinter-frankreichs-pl%C3%A4nen-f%C3%BCr-mini-atomreaktoren/a-59585200

von Lisa Louis am 22. Oktober 2021

Als ein Tsunami vor zehn Jahren Japans Küste traf und das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zerstörte, führte das in einigen Ländern zum Umdenken. Deutschland beschloss einen schnelleren Atomausstieg bis 2022, in Italien sprachen sich wenige Wochen nach der Katastrophe in einem Referendum 95 Prozent der Bürger gegen den Atomwiedereinstieg aus. Andererseits halten Staaten wie Finnland, die USA, Russland und auch Frankreich an der Atomenergie fest, beziehungsweise wollen sie weiter ausbauen.

Präsident Macron bei seiner Rede zur Agenda France 2030

Zwar will Frankreich seinen Nuklearstromanteil laut einem Gesetz bis 2035 von im Moment etwa 70 Prozent - einem weltweiten Rekord - auf 50 Prozent senken. Aber der französische Präsident Emmanuel Macron hat in Frage gestellt, ob das machbar sei. Zudem hat er nun angekündigt, in die Entwicklung kleiner Nuklearreaktoren zu investieren - um „mit bahnbrechenden Innovationen in dem Sektor voranzugehen“.

Ebenfalls an der Küste des Ärmelkanals, in Paluel, steht ein weiteres Atomkraftwerk. Ein Blick in die Schaltzentrale.

Verweis auf vergangene Erfolge

Das soll dem Land helfen, weiterhin Strom zu produzieren, ohne den CO2-Ausstoß in die Höhe zu treiben. Doch Experten sagen, die sich noch in den Kinderschuhen befindende Technologie sei weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll. Sie vermuten, dass hinter der Investitionsentscheidung andere Gründe stecken könnten.

„Wir haben einen entscheidenden Vorteil - unser historisches Modell: die schon bestehenden Atomkraftwerke“, sagte Macron, als er die Strategie Frankreich 2030 vor kurzem im Pariser Elysée-Palast vorstellte. Von dem 30-Milliarden-Paket sollen acht Milliarden Euro in den Energiebereich fließen, eine Milliarde davon in die Entwicklung sogenannter Mini-Reaktoren. Und obwohl die für diese angesetzte Investitionssumme relativ gering ist, nannte Präsident Macron die Pläne an erster Stelle seiner neuen Strategie.

Die Meiler dürften eine Leistung von 50 bis 500 Megawatt (MW) haben - wären also erheblich kleiner als Frankreichs bisherige Meiler mit einer Größe von 900 bis 1450 MW - und könnten in Clustern gebaut werden, um so auf eine höhere Gesamtstärke zu kommen. Doch ist das Land nicht Vorreiter in der Mini-Reaktor-Technologie: Das Startup NuScale Power in Portland im Nordwesten der USA hat ein bereits genehmigtes Design entwickelt. Ein erster solcher 60 MW-Reaktor soll 2027 stehen. In Russland plant das staatliche Unternehmen Rosatom, 2028 seinen ersten Mini-Reaktor an Land zu bauen, und zwar in der nordöstlichen Provinz Sacha. Rosatom betreibt bereits einen solchen Small Modular Reactor (SMR) auf einem Schiff, der Akademik Lomonossow, dass im Nordpolarmeer vor Anker liegt.

Russlands erstes schwimmendes Atomkraftwerk, die „Akademik Lomonossow“

„Frankreich hat Fachwissen, um Vorsprung aufzuholen“

Laut Macrons Plänen soll Frankreich erst 2030 einen Prototypen haben. Doch Nicolas Mazzucchi von der Pariser Stiftung für Strategische Recherche glaubt, das Land könne trotzdem Spitzenreiter in der Technologie werden. „Wir haben das nötige Fachwissen, und wenn jetzt noch der private Sektor mit mehr Investitionen nachzieht, könnten wir 2030 mit der Serienproduktion beginnen“, meint er gegenüber DW.

So müsse die Nuklearenergie weiterhin ein fester Bestandteil des Energiemixes bleiben: „Sie ist stabil und planbar - also nicht wie gewisse erneuerbare Energien zeitweise unterbrochen, zum Beispiel, weil kein Wind weht - und produziert kaum CO2, wenn das Kraftwerk erstmal steht.“ Zudem habe man das Risiko eines Unfalls im Griff, da die Industrie stark kontrolliert werde. Und die nötige Expertise, um den anfallenden Atommüll zu händeln – der noch Jahrtausende lang strahlt.

Hingegen erklärt Mycle Schneider die Atomkraft für ineffizient im Kampf gegen den Klimanotstand - „zu teuer, zu langsam“. Der unabhängige Energie- und Atompolitikberater ist Koordinator eines internationalen Teams, mit dem er einen jährlichen, umfangreichen Statusberichts über die Nuklearindustrie erarbeitet. „Die Diskussion über diese zu entwickelnden kleineren Atomkraftwerke ist orchestrierte Schaumschlägerei und ein Riesenhype“, sagt er zu DW. „Im vergangenen Jahr sind weltweit über 250 Gigawatt (GW) Erneuerbare ans Netz gegangen und netto nur 0,4 GW nukleare Kapazität hinzugekommen - Atomenergie ist inzwischen irrelevant im Markt.“

Proteste von EDF-Mitarbeitern gegen die Schließung des AKW Fessenheim, das 202 vom Netz ging.

Endlose Bauzeiten

Dabei seien Atomreaktoren nur scheinbar zuverlässiger als Erneuerbare: „Frankreichs Meiler waren 2020 im Schnitt etwa ein Drittel der Zeit abgeschaltet, vor allem wegen Wartungsarbeiten. Auch, weil sie inzwischen alle sehr alt sind - im Schnitt über 35 Jahre“, erklärt Schneider. Zudem gehe es um ein Mix aus diversen erneuerbaren Energien und Nachfragemanagement, was das Problem der Variabilität lösen könne.

Außerdem dauere es sehr lange, neue Atomkraftwerke zu entwickeln und zu bauen. „EDF (Frankreichs führender Stromkonzern, d.Red.) hat zusammen mit Siemens kurz nach der Atomkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl 1986 angefangen, seinen EPR-Reaktor der sogenannten 3. Generation zu entwickeln. Und 35 Jahre später produziert in Europa immer noch keiner Strom damit“, führt Schneider an. EPR steht für European Pressurized Water Reactor (Europäischer Druckwasser-Reaktor).

Im nordfranzösischen Flamanville baut EDF seit 2007 einen 1,6 GW-EPR-Reaktor. Die Arbeiten kosten inzwischen anstelle der zunächst angesetzten drei bereits über elf Milliarden Euro. Fertig werden soll er erst nächstes Jahr - zehn Jahre später als ursprünglich geplant. Dennoch könnte Präsident Macron bald den Bau von sechs zusätzlichen EPRs in Frankreich ankündigen.

Im Bau: Atomkraftwerk in Flamanville (Normandie), direkt am Ärmelkanal

Geht es um etwas Anderes als Atomstrom?

Angesichts solcher Fristen denkt auch Kenneth Gillingham, Professor für Umwelt- und Energiewirtschaft an der US-Universität Yale, dass sich eine Investition in Atomenergie heutzutage kaum noch lohnt. „Die Sicherheitsanforderungen sind inzwischen so hoch, dass sie den Preis der Atomenergie extrem in die Höhe getrieben haben“, erklärt er gegenüber DW. „Ich sehe keinen Sinn darin, in neue Arten der Nuklearenergie zu investieren. Sie ist zu kapitalintensiv, ohne dass man mit Sicherheit weiß, ob die kleinen Atomkraftwerke im Endeffekt funktionieren werden.“

Proteste von Greenpeace am Atomkraftwerk Cattenom im Oktober 2017.

Philip Johnstone, Forschungsmitarbeiter an der Business School der Universität Sussex in Südengland, fügt dem hinzu, dass der umgekehrte Skaleneffekt der kleinen Reaktoren keinen Sinn mache. „Bisher hat man uns erzählt, große Meiler seien wirtschaftlicher, weil man durch den Mengeneffekt Geld spart – jetzt soll das auf einmal andersherum funktionieren?“ zweifelt er im Gespräch mit DW. Johnstone denkt daher, dass es bei Frankreichs Investitionsentscheidung nicht um Nuklearstrom geht.

„Länder, die weiter auf Atomenergie setzen, sind meist Länder mit Nuklearwaffen - wie Großbritannien, die USA und Frankreich. Sie müssen ihren Atomsektor beibehalten“, erklärt er und verweist auf eine Rede Macrons von Dezember 2020: „Ohne zivile Atomkraft keine militärische Atomkraft und ohne militärische Atomkraft keine zivile“, hatte der Präsident damals gesagt und den Sektor gepriesen, der in Frankreich 220.000 Menschen beschäftigt. „In kleine Nuklearreaktoren zu investieren scheint vor allem eine strategische Entscheidung zu sein – obwohl man dadurch Geld und Zeit verschwendet“, denkt Johnstone. Doch gerade Zeit ist knapp. Laut den Vereinten Nationen muss die Menschheit ihre CO2-Emissionen - ausgehend vom Jahr 2019 - bis 2030 jedes Jahr um über sieben Prozent senken, um die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.

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