20 April 2022

Handelsblatt (Germany)

Teurer Atomstrom—Ausfälle von Atomkraftwerken: Frankreich zahlt exorbitante Strompreise

Wegen Wartungen und Mängeln steigen die Börsenstrompreise in Frankreich um ein Vielfaches. Experten warnen: Atomkraftwerke sind ein Kostentreiber.
Source : Handelsblatt — Ausfälle von Atomkraftwerken: Frankreich zahlt exorbitante Strompreise https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/teurer-atomstrom-ausfaelle-von-atomkraftwerken-frankreich-zahlt-exorbitante-strompreise/28250864.html

von Anna Gauto, am 14. April 2022

München. Im Februar hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angekündigt, neben erneuerbaren Energien „das große Abenteuer der zivilen Atomkraft in Frankreich wieder aufzunehmen“, um die Stromproduktion zu steigern.

Zusätzlich zum Bau neuer Atomkraftwerke (AKWs) und von Minireaktoren, Small Modular Reactors (SMRs), solle der staatlich kontrollierte Stromkonzern Électricité de France (EDF) eine Laufzeitverlängerung bestehender Atomkraftwerke auf über 50 Jahre prüfen.

Ob sich Macrons Wunsch erfüllt, keinen „produktionsfähigen Atomreaktor“ mehr vom Netz zu nehmen, ist allerdings fraglich. Denn immer wieder legen sich Frankreichs alternde Meiler wegen Störungen oder ausufernder Wartungsarbeiten von selbst lahm. Allein in der vergangenen Woche führten Ausfälle dazu, dass Frankreich von 61,4 Gigawatt installierter Leistung an Nuklearstrom zwischenzeitig über die Hälfte fehlte.

Atomkraftwerk in Belleville-sur-Loire
Atomkraftwerk in Belleville-sur-Loire
Die in die Jahre gekommenen französischen Atomkraftwerke werden zum Kostentreiber.
© Reuters

Zugleich kurbelten niedrige Temperaturen in dem Land, das hauptsächlich elektrisch heizt, die Stromnachfrage kräftig an. In der Folge mussten die Nachbarländer die französische Stromversorgung stützen. Allein Deutschland exportierte zwischenzeitig bis zu fünf Gigawatt – das ist mehr, als die letzten drei deutschen Atomkraftwerke zusammen produzieren.

Zusätzlich musste Frankreich große Mengen an exorbitant teurem Strom am Spotmarkt zukaufen. Am Morgen des 4. April kletterte der französische Tagespreis (Day-Ahead-Preis) auf einen Rekordwert von fast 3000 Euro pro Megawattstunde (MWh), das sind fast drei Euro für eine Kilowattstunde.

Im selben Zeitraum kostete Großhandelsstrom in Deutschland 101 Euro pro MWh, das ist dreißig Mal weniger. Auch im Tagesdurchschnitt kam Deutschland sehr viel günstiger weg: Der deutsche Spotpreis lag bei 75 Euro pro MWh, der französische war mit 550 Euro pro MWh immer noch mehr als sieben Mal so hoch. Warum dieser Preisunterschied?

„Frankreich hätte Teile des Stromnetzes lahmlegen müssen“

Der Anteil von Atomenergie am Strommix lag 2021 in Frankreich bei 71 und der von Erneuerbaren bei etwa 21 Prozent. „Wenn vom Atomstrom die Hälfte wegbricht, es zusätzlich kalt ist und kaum Wind weht, ist Frankreich besonders stark auf Gas angewiesen. Und da gehen die Preise derzeit durch die Decke“, sagt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Wer wie Frankreich bei knapper Stromverfügbarkeit an der Börse zukaufen muss, zahlt Rekordsummen.

Deutschland kam in derselben Woche wesentlich besser weg, weil Erneuerbare über 66 Prozent des Strombedarfs deckten. Den Rest machte vor allem Kohle aus (über 20 Prozent), während der Anteil am teuren Gas lediglich bei unter fünf Prozent lag, wie Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) zeigen.

Dazu komme, sagt Bruno Burger, Energieexperte am Fraunhofer ISE, dass Frankreich Strom Jahre im Voraus verkaufe und auch bei Engpässen seine Lieferverpflichtungen erfüllen müsse. Zusätzlich seien einige Leitungen nach Frankreich an ihre Kapazitätsgrenzen geraten, was die Börsenstrompreise noch mal explodieren ließ, so Burger. „Ohne Deutschland und Importe von anderen Nachbarn hätte Frankreich in der vergangenen Woche Teile seines Stromnetzes lahmlegen müssen.“

Frankreich importiere seit mindestens 2015 mehr Strom aus Deutschland als umgekehrt. Besonders in den Wintermonaten, denn für jedes Grad zusätzlich unter null erhöht sich der Stromverbrauch in Frankreich um etwa 2,5 Gigawatt, das entspricht zwei AKWs.

Inzwischen haben sich die französischen Börsenstrompreise etwa halbiert, auch weil die Windräder wieder kräftig rotierten. Doch laut Quaschning „sind und bleiben Frankreichs Atomkraftwerke Kostentreiber – und damit ein Risiko für eine günstigere und sichere Energieversorgung“.

Dass kostspielige Ausfälle weiter zum Alltag gehören, ist bei einem durchschnittlichen Flottenalter von 37 Jahren alles andere als unwahrscheinlich.

Risse im Not-Einspeisesystem

Laut Mycle Schneider, Koordinator des World Nuclear Industry Status Report (WNISR), kann der Betreiber EDF selbst bei geplanten Eingriffen nicht absehen, wann ein Reaktor zurück ans Netz geht. Gerade bei dem Drittel der Anlagen, die schon über 40 Jahre liefen, sei „völlig unklar, welche komplexen Probleme auftreten können“.

Nach Berechnungen des WNISR 2020 waren die realen Auszeiten im Schnitt 44 Prozent länger als geplant. „Wir haben auch schon erlebt, dass ein Wiederankopplungstermin bis zu 40 Mal verschoben wurde“, so Schneider.

Schon seit Wochen fehle regelmäßig über die Hälfte der installierten Kapazität. „Ich sehe nicht, warum sich dieser Trend umkehren sollte, da nun auch die modernsten Reaktoren wegen Rissen im Not-Einspeisesystem betroffen sind“, so der Nuklearexperte. Inzwischen wurde bekannt, dass neben den fünf AKWs, die im Dezember 2021 abgeschaltet wurden, weitere Baulinien betroffen sind.

„Dass sich die Verfügbarkeit von Kernkraftwerken mittelfristig wieder ergeben wird“, wie man beim Kerntechnik-Verband Deutschland (KernD) annimmt, glaubt weder Schneider noch Quaschning. „Viele Anlagen sind so alt, dass sie in den nächsten zehn Jahren wegbrechen werden. Allein ihre Leistung durch den Bau neuer AKWs zu ersetzen ist eine Riesenaufgabe“, so Quaschning.

Der französische Rechnungshof warnte bereits im vergangenen Jahr, dass neue AKWs „nicht termingerecht und zu vernünftigen Kosten“ gebaut werden könnten, wie der EPR-Reaktor in Flamanville. Dieser werde frühestens 2023 ans Netz gehen – mit einer Verspätung von elf Jahren.

„Wir erwarten mehr Reaktorausfälle als die, von denen EDF derzeit berichtet“, sagt auch der Analyst Eylert Ellefsen von der norwegischen Energieplattform Energy Quantified dem Branchendienst Montelnews. Man gehe von einem „angespannten“ kommenden Winter aus.

Dass die hohen Börsenstrompreise bislang nicht bei den Endkunden angekommen sind, liegt laut Schneider vor allem daran, dass Macron EDF mit Blick auf die Wahlen trotz rückläufiger Produktivität angewiesen hat, 20 TWh mehr zu verkaufen und diese für maximal 46,20 Euro je MWh an die Konkurrenz abzugeben.

Der durchschnittliche Preis im April liegt bis heute bei 283 Euro pro MWh. Zudem soll EDF die Strompreise 2022 nur um maximal vier Prozent erhöhen dürfen. Ohne diesen Deckel läge der Anstieg Experten zufolge bei bis zu 20 Prozent.

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