Tagesschau.de, Stand: 11.03.2019 04:00 Uhr
von Jürgen Döschner, WDR
Als Alexej Lichatschow Mitte letzten Jahres zum Rapport bei Präsident Putin antrat, hatte er lauter Erfolge zu vermelden. „Zum heutigen Tag haben wir unterzeichnete Verträge und zwischenstaatliche Vereinbarungen für den Bau von 35 Kraftwerksblöcken“, erklärte der Chef des staatlichen Atomkonzerns ROSATOM. „Das sind 67 Prozent des Weltmarktes für den Bau von AKW im Ausland.“
Der Auftragsbestand des Unternehmens übersteige den Wert von 133 Milliarden US-Dollar, so der ROSATOM-Chef laut Presseerklärung des Unternehmens vom 3. Juli 2018 - davon rund 90 Milliarden US-Dollar allein für die laufenden AKW-Neubauten. Auf der aktuellen Webseite des russischen Atomkonzerns ist die Darstellung noch positiver. Dort ist die Rede von insgesamt 36 nuklearen Kraftwerksblöcken in insgesamt elf Ländern, die sich unter Beteiligung von ROSATOM derzeit „im Bau befinden“.
Zweifel am Bild der weltweit florierenden Atomindustrie
Während andere Hersteller und Exporteure von Atomkraftwerken - von Westinghouse (USA) über Hitachi (Japan) und KEPCO (Korea) bis hin zu Framatome (Frankreich) - seit Fukushima in großen Schwierigkeiten stecken, vermeldet ROSATOM einen Erfolg nach dem anderen. Dort zeichnet man das Bild von einer weltweit florierenden Atomkraft-Industrie, angeführt durch Russland und dem staatlichen Atomkonzern ROSATOM.
Erleben wir also heute, acht Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, doch eine Renaissance der Atomkraft? Keineswegs, sagt die russische Umweltorganisation „Ecodefense“. Sie hat den vermeintlichen Exportboom von ROSATOM auf den Prüfstand gestellt. Das Ergebnis: „Es ist alles nicht so rosig, wie uns die Atom-Bosse erzählen“, so der ehemalige stellvertretende Umweltminister Russlands, Wladimir Milow, in dem Vorwort zu der jüngst erschienenen Studie von „Ecodefense“.
Laut dieser Studie baut ROSATOM derzeit im Ausland nicht 36, sondern lediglich sieben neue Atomreaktoren - jeweils zwei in Indien, Bangladesh und Weißrussland, sowie einen in der Türkei. In den übrigen von ROSATOM genannten Fällen, so die Darstellung der Umweltorganisation, sei der Baubeginn verschoben worden, gebe es lediglich Absichtserklärungen oder Verträge, und in manchen Fällen - wie etwa Armenien, Jordanien oder Nigeria - nicht einmal das. Den Auftragswert dieser sieben im Bau befindlichen Kraftwerksblöcke beziffert „Ecodefense“ auf insgesamt rund 36 Milliarden US-Dollar.
Widersprüchliche Reaktionen von ROSATOM
ROSATOM selbst reagiert widersprüchlich auf die Studie. Einerseits bezeichnet das Unternehmen auf Anfrage des WDR alle zentralen Aussagen der Studie als „falsche Tatsachenbehauptungen“. Andererseits bestätigt ROSATOM in derselben Stellungnahme indirekt die Zweifel von „Ecodefense“ an der Zahl der AKW-Neubauten im Ausland. „ROSATOM hat nie erklärt, dass sich derzeit 36 Kernkraftwerke physisch im Bau befinden“, schreibt das Unternehmen. Vielmehr bezöge sich diese Zahl "auf eine Reihe von Reaktoren oder Kraftwerken bei ausländischen Neubauprojekten in verschiedenen Umsetzungsphasen.
In der Regel dauert es mehrere Jahre und Hunderte von Millionen Dollar, um sich auf die Hauptbauphase vorzubereiten, die erst nach dem ersten Betonieren auf der Baustelle beginnt, woraufhin das Kraftwerk als ’im Bau’ gilt."
Allerdings: Auf seinen Internet-Seiten spricht ROSATOM - sowohl in der russischen, als auch in der englischsprachigen Version - nach wie vor und ausdrücklich von 36 „im Bau befindlichen“ Reaktor-Neubauten im Ausland.
Lukrative „Newcomer“
Gestützt werden die Aussagen von „Ecodefense“ auch durch den jährlich erscheinenden „World Nuclear Industry Status Report“ (WNISR), einer umfassenden, globalen Studie über den Zustand der Atomkraft-Industrie. Dort werden insgesamt sieben AKW-Projekte von ROSATOM aufgeführt, bei denen der Baubeginn verschoben oder ganz aufgegeben wurde. Sie betreffen allesamt Länder wie Indonesien, Bangladesch, Jordanien oder Vietnam, die bislang keine Atomkraftwerke betreiben.
Das Interesse Russlands und der staatlichen ROSATOM an solchen nuklearen „Newcomern“ ist besonders groß. Denn hier muss die gesamte nukleare Infrastruktur erst aufgebaut werden, und es locken lukrative Anschlussverträge für Versorgung-, Entsorgung und Wartung. Nicht zuletzt deshalb ist Russland offenbar auch bereit, viele dieser Auslandsaufträge großzügig zu finanzieren - nach Angaben von „Ecodefense“ mit Bürgschaften und Krediten die teils bis zu 90 Prozent der Baukosten umfassen und nicht selten aus dem staatlichen Rentenfonds finanziert werden.
Nur zwei neue Projekte im letzten Jahr
Dass trotz solch großzügiger Angebote die Zahl der AKW-Neubauten kontinuierlich zurückgeht - im letzten Jahr wurden laut WNISR weltweit überhaupt nur zwei Projekte neu begonnen - spricht ebenfalls gegen die These von einer „Renaissance“ der Atomkraft. Denn neben den ökologischen und Sicherheitsbedenken kommt hinzu, dass erneuerbare Energien in den Jahren seit Fukushima immer effizienter und preisgünstiger geworden sind.