Frankreich prüft AKW strenger als die Schweiz
Ein neuer Report zeigt, wie andere Länder mit alternden Atomkraftwerken umgehen. Der Autor fordert, dass die Politik reagiert.
Von Stefan Häne 29.07.2014
Nirgendwo auf der Welt läuft ein Atomkraftwerk schon so lange wie in der Schweiz. Am 1. September wird das AKW Beznau I 45 Jahre in Betrieb sein – und darf gemäss Gesetz weiterlaufen, so lange es «sicher» ist und dem «Stand der Nachrüsttechnik» entspricht. Was das heisst, ist jedoch unklar. Dieter Majer, ehemaliger Leiter der Atomaufsichtsbehörde in Deutschland, kritisiert diese Bestimmungen denn auch als «inhaltsleer», da sie nicht mit konkreten Auflagen verbunden seien. Die Atomaufsichtsbehörde des Bundes (Ensi) beteuert hingegen, die Schweizer AKW seien sicher, und verweist auf den 2012 durchgeführten Stresstest der EU, der den hohen Sicherheitsstandard bestätigt habe.
Auch andere Länder sehen sich mit der Problematik alternder AKW konfrontiert. Wie sie damit umgehen, zeigt der «World Nuclear Industry Status Report 2014», der am Dienstag in Washington publiziert worden ist. In den USA zum Beispiel erteilen die Behörden die Betriebsbewilligungen für 40 Jahre, danach können die AKW-Betreiber eine Erneuerung um bis zu 20 Jahre beantragen, und zwar mehrmals. Dabei gelten allerdings bloss die Sicherheitsvorschriften vom Zeitpunkt der Inbetriebnahme. Eine Carte blanche ist diese 40-Jahre-Lizenz gleichwohl nicht; die Atomaufsichtsbehörde NRC (Nuclear Regulatory Commission) kann sie jederzeit entziehen – und tut dies auch. So wurden etwa in einem Meiler des AKW Davis Besse Schäden am Reaktordeckel festgestellt, worauf die Anlage zwischen 2002 und 2004 vom Netz genommen wurde, bis die Reparatur den Anforderungen der NRC genügte. Seit Mai 2012 hat die NRC keine Laufzeitverlängerungen mehr bewilligt.
Betriebsbewilligung für 10 Jahre
Anders als in den USA werden in Frankreich Betriebsbewilligungen jeweils für 10 Jahre erteilt, in der Folge werden die Anlagen umfassend geprüft und müssen den aktuellen Sicherheitsstandards entsprechen – wobei die genaue Auslegung dieses Terminus auch in Frankreich Unschärfen birgt. Eine weitere französische Spezialität: Da der AKW-Park aus wenigen, baugleichen Modellen besteht, müssen Mängel, die bei der einen Anlage entdeckt werden, in allen anderen AKW gleicher Bauweise behoben werden.
Für die atomkritische Schweizerische Energie-Stiftung (SES) zeigt der Vergleich des Reports vor allem etwas: «Die Schweiz hat weder die französischen noch die amerikanischen Regeln, sondern gar nichts», sagt SES-Expertin Sabine von Stockar. Und dies, obschon die AKW mit zunehmendem Alter nachweislich gefährlicher würden. Dieses Risiko betreffe vor allem die Schweiz, wo die Atomkraftwerke durchschnittlich 39,2 Jahre in Betrieb seien – fast 11 Jahre länger als im weltweiten Vergleich.
«Die Konsequenzen ziehen»
Der Report gibt keine Empfehlung ab, wie mit alternden AKW idealerweise umzugehen sei. Auf Nachfrage stellt Hauptautor Mycle Schneider aber klar: Nachrüstungen sollten die Anlagen dem aktuellen Stand der Technik anpassen. Genau dies sei aber bei vielen Anlagenteilen bautechnisch nicht möglich, sagt der deutsche Energieexperte und Atomkritiker. «Daraus sollte die Politik die Konsequenzen ziehen.»
Wie diese Konsequenzen aussehen könnten, ist in der Schweiz Gegenstand zähen politischen Ringens. Die nationalrätliche Energiekommission (Urek) wird nach den Sommerferien das Kernenergiegesetz behandeln. In der Wintersession dürfte das Geschäft ins Parlament kommen. Zur Debatte steht, die Sicherheitskriterien klar zu definieren und die Laufzeit der fünf Meiler auf 50 Jahre zu begrenzen. Nach 40 Jahren sollen die Stromfirmen den Bundesbehörden ein Konzept vorlegen müssen, das den sicheren Betrieb der Anlage für weitere maximal 10 Jahre ausweist. Für diese Variante hatte sich die Urek im Frühjahr 2013 ausgesprochen. Mit ihrem Vorschlag will sie der Atomausstiegsinitiative der Grünen den Wind aus den Segeln nehmen; diese will die Laufzeit auf 45 Jahre beschränken.
Dass die «40+10»-Regel die anstehenden Kommissionsberatungen unbeschadet übersteht und später im Parlament mehrheitsfähig wird, ist aber noch nicht sicher. SVP und FDP lehnen ein fixes Abschaltdatum ab. Urek-Mitglied Christian Wasserfallen (FDP) argumentiert, das heutige System mit unbefristeter Betriebsbewilligung und AKW-Überprüfungen durch das Ensi führe zu sehr hohen Sicherheitsstandards. Um im Parlament eine Mehrheit zu gewinnen, sind FDP und SVP auf Stimmen aus der Mitte angewiesen. Doch angefragte Kommissionsmitglieder aus CVP und BDP halten es weiterhin für falsch, die Werke laufen zu lassen, solange sie als «sicher» gelten. «Im Umkehrschluss müssten wir sie ja erst abschalten, wenn sie nicht mehr sicher sind», sagt zum Beispiel Stefan Müller-Altermatt (CVP). «Das kann niemand wollen.»
(Tages-Anzeiger) (Erstellt: 29.07.2014, 22:51 Uhr)
Die Rentabilität von Atomstrom nimmt ab
Atomkraftwerke vertragen sich schlecht mit einer Energieversorgung aus Wind- und Solarstrom. Das bekommen AKW-Betreiber zu spüren – auch in der Schweiz.
Wind- und Sonnenenergie prägen die Stromproduktion in Europa immer mehr. Die Dänen deckten im vergangenen Jahr laut dem neuen «Renewables Global Status Report» ein Drittel der Stromnachfrage mit Windkraft, in Spanien beträgt deren Anteil am Strommix ein Fünftel. Die Italiener produzieren knapp 8 Prozent des Stroms durch Fotovoltaikanlagen. Auch die Produktionskapazität ist in der EU weiter angewachsen: Der grösste Teil stammt von Windanlagen und Fotovoltaik. Erreicht die EU das Anfang Jahr beschlossene Ziel bis zum Jahr 2030, dann produzieren die EU-Länder in zwanzig Jahren 45 Prozent des elektrischen Stroms durch erneuerbare Energien.
Dieses Ziel werde «die Wirtschaftlichkeit der nuklearen Energie signifikant beeinflussen», heisst es im eben erschienenen «World Nuclear Industry Status Report». Was das heisst, zeigt eine Fallstudie während einer Woche im vergangenen Jahr in Deutschland. In der Bundesrepublik wie auch in anderen europäischen Staaten haben erneuerbare Energien stets Vorrang, wenn es darum geht, die Schwankungen im Stromnetz zu regulieren. Bei Stromüberschuss zum Beispiel müssen vielfach Kohle- und Gaskraftwerke mit der Produktion zurückfahren. Für die Betreiber von Atomkraftwerken kommen die Schwankungen im Stromnetz ungelegen, die durch das Wachstum erneuerbarer Energien verursacht werden. AKW sind grundsätzlich wenig flexibel. Die Produktion einer Anlage hinunter- und wieder hinaufzufahren, erfordert zu viel Zeit und ist kostspielig. So laufen die Atomkraftwerke, wie das deutsche Fallbeispiel im Dezember zeigt, bei einer Auslastung zwischen 65 und 90 Prozent – selbst wenn viel Windstrom fliesst und die Strompreise bei null liegen. Die AKW liefen sogar während Hunderter Stunden Volllast, obwohl der Marktpreis für eine Kilowattstunde Strom unter den Produktionskosten lag. Dies ist unter anderem der Fall, wenn Wind- und Solarkraftwerke überproduzieren und die Strompreise purzeln. Die Statistik für das vergangene Jahr zeigt, dass die Rentabilität der AKW nicht nur in jener Dezemberwoche gesunken war, sondern dies immer wieder über das ganze Jahr der Fall war.
Subventionen für AKW gefordert
Das Beispiel Deutschland lässt sich auch auf die Schweiz übertragen. «Die Rentabilität der Kernkraftwerke hat abgenommen», sagt Tobias Kistner von der Axpo. Das Marktumfeld sei allerdings für den gesamten Kraftwerkspark schwierig geworden. «Die Marktpreise sind an einem Punkt angelangt, an dem vielfach die Produktionskosten nicht mehr gedeckt werden können», sagt Kistner. Die Produktion von Atomstrom wird wohl auch in Zukunft nicht wirtschaftlicher, im Gegenteil. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts zeigt, dass sich mit dem Wachstum der Wind- und Sonnenenergie die Produktionsstunden bei äusserst tiefen Strompreisen in den vergangenen zwei Jahren in Europa vervierfacht haben.
Wie akut das Problem ist, zeigt die Reaktion von zehn EU-Staaten, von denen in neun Ländern Atomkraftwerke in Betrieb sind. Diese forderten Anfang Juli in einem Brief an die Europäische Kommission Subventionen für Atomstrom. Für die Schweizer AKW-Betreiber ist dies auf Anfrage keine Option. «Die Energieversorgung sollte in Zukunft so aufgestellt sein, dass bei allen Energieträgern allein der Markt spielt», sagt Tobias Kistner von der Axpo.
Martin Läubli (Tages-Anzeiger)