Martin Läubli • 5. Oktober 2024
In Kürze:
- Weltweit gibt es 408 Reaktoren, die gut 9 Prozent der weltweiten Stromproduktion liefern.
- In Europa ist Kernkraft vor allen in Frankreich und Grossbritannien ein aktuelles Thema.
- Kleine modulare Reaktoren gelten als zukünftige Option, doch wann kommen sie?
Es gibt Länder, die sich von der nuklearen Energie verabschieden. Deutschland hat 2023 die letzten drei Reaktoren abgestellt, die Schweiz will keine neuen Atomkraftwerke mehr bauen. Dennoch: Es entstehen jedes Jahr neue Atomkraftwerke, es werden aber auch gleich viele ausser Betrieb genommen. In der Schweiz werden die Stimmen lauter, die das Verbot für neue Atomkraftwerke aufheben wollen. Der kürzlich veröffentlichte World Nuclear Industry [Status] Report gibt einen nüchternen Überblick, wie es heute um die Atomkraft steht. Das sind die wichtigsten Punkte.
Atomkraftwerke liefern heute weltweit wieder fast so viel Strom wie 2006, als die Stromproduktion das Maximum erreicht hatte. Nur verzeichnen seither die Wasserkraft und die neuen erneuerbaren Energiequellen wie etwa die Sonnen- und die Windenergie oder Holz und Biogas einen beachtlichen Anstieg. Die Konsequenz: Der Anteil der Nuklearenergie ist langsam, aber stetig gesunken: von 17,5 Prozent auf gegenwärtig 9,2 Prozent. Dieser Anteil stammt von weltweit 408 Reaktoren in 32 Ländern. Die Investitionen in die Kernkraft blieben in den letzten 20 Jahren ziemlich konstant, 2023 betrugen sie etwa 32 Milliarden Dollar, wie Bloomberg NEF schätzt. Zum Vergleich: In die erneuerbare Energie wurden 623 Milliarden investiert.
In Europa sind in den letzten 12 Monaten drei Reaktoren in Betrieb gegangen: in Finnland, in der Slowakei und in Frankreich. Allerdings hinterlassen diese Projekte einige Fragezeichen. Die neuen EPR-Reaktoren in Finnland und Frankreich hatten eine Bauverzögerung von 16 und 12 Jahren. Die Kostenüberschreitungen waren massiv. Die ETH-Forscherin Annalisa Manera sieht den Grund vor allem in den verschwundenen Lieferketten, weil in Europa mehr als 20 Jahre keine neuen Kernkraftwerke mehr gebaut worden waren. Frankreich will trotz den schlechten Erfahrungen in Zukunft gross in die Kernkraft investieren, auch in England sollen weitere Reaktoren folgen. Andere europäische Länder wie Schweden oder Polen setzen darauf, die Betriebszeit zu verlängern und in den 2030er-Jahren «kleine modulare Reaktoren» (SMR) zu bauen. Aber das sind bisweilen nur Pläne.
Die «Big Five» sind die USA, China, Frankreich, Russland und Südkorea. Sie produzieren 72,4 Prozent des weltweiten Nuklearstroms.
Im Jahr 2023 gingen fünf neue Reaktoren ans Netz: in Belarus, China, der Slowakei, Südkorea und den USA. Fünf Reaktoren wurden abgestellt: drei in Deutschland und je ein Reaktor in Belgien und Taiwan. In der Zeit zwischen 2004 und 2023 lieferten 102 neue Reaktoren Strom ins Netz, es wurden aber auch 104 Reaktoren geschlossen. Die durchschnittliche Bauzeit eines Reaktors beträgt knapp 10 Jahre.
Aktuell sind 59 Projekte in dreizehn Staaten im Bau, davon 27 in China. Die Realisierung von mindestens 23 Reaktoren ist verspätet. Von den 234 Anlagen, die seit 1979 geplant oder realisiert wurden, sind 48 Projekte nie vollendet worden.
Die 408 Reaktoren, die derzeit in Betrieb sind, sind im Durchschnitt 32 Jahre alt. Ein Viertel des Reaktorparks weltweit ist mindestens 41 Jahre alt. Etwa 22 haben bereits 50 Jahre und mehr Betriebszeit hinter sich, darunter sind auch die beiden Schweizer Reaktoren von Beznau. Doch eine Verlängerung der Betriebszeiten der Reaktoren wird vermutlich weltweit zur Regel werden. In den USA zum Beispiel, wo die Reaktoren durchschnittlich über 40 Jahre alt sind, haben 85 von 93 Reaktoren bereits eine Lizenz für weitere 20 Betriebsjahre erhalten. In der Schweiz gibt es keine Altersgrenze, die Reaktoren dürfen so lange betrieben werden, wie sie nachweislich sicher sind.
China baut zwar am meisten Atomreaktoren in der Welt, hat aber abgesehen von einem in Pakistan keine Bauprojekte im Ausland. Anders Russland: Von den 26 geplanten Reaktoren sind nur 6 für das eigene Land, die restlichen 20 werden im Ausland gebaut. Russland dominiert das Geschäft mit der nuklearen Technologie. Es ist aber derzeit ungewiss, ob Russland die Pläne ausführen kann, weil seit der Invasion in die Ukraine das Land international mit wirtschaftlichen Sanktionen belegt ist.
Spricht man mit Befürwortern der Nuklearenergie, so werden die kleinen modularen Reaktoren (SMR) schon fast als «Heilsbringer» verkauft. Diese Reaktoren sollen sicherer sein, die Kosten seien vorhersehbar, und ein schrittweiser Kapazitätsausbau sei möglich. Auch in der Schweiz sehen Atomstrombefürworter ein grosses Potenzial in dieser Technik. Doch wo steht deren Entwicklung? Die Kernenergieagentur NEA der OECD listet 56 Modelle auf. Die ersten SMR würden voraussichtlich in diesem Jahrzehnt gebaut. Allerdings: Im November 2023 strich ein Vorreiter, der amerikanische SMR-Entwickler Nuscale sein Vorzeigeprojekt, weil unter anderem die Kosten in die Höhe geschnellt waren.
Ohne die Kernenergie wären die CO₂-Emissionen des Energiesektors in Industriestaaten in den letzten 50 Jahren um 60 Milliarden Tonnen höher gewesen, schreibt die Internationale Energieagentur IEA. Die IEA ist überzeugt, dass eine Welt ohne Emissionen nur möglich ist, wenn die Kernkraft und gleichzeitig die erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Das Umweltinstitut München hingegen schätzt: Während der gesamten Prozesskette – Uranabbau, Urananreicherung, Transporte, Lagerung von Atommüll und Bau sowie Rückbau von Atomanlagen – entstünden Emissionen. All dies eingerechnet, habe Atomstrom eine schlechtere CO₂-Bilanz als erneuerbare Energie.
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