22 January 2022

Kleine Zeitung (Austria)

Pro & Contra I Ist die Energiewende ohne Atomkraft zu schaffen?

Um das Pariser 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, soll Europa bis 2050 komplett auf umweltfreundliche Energien umsteigen. Kann das gelingen, ohne auch die Atomkraft für Investoren als „grüne Anlageform“ freizugeben?
Source : Kleine Zeitung: Pro & Contra I Ist die Energiewende ohne Atomkraft zu schaffen? https://www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/6083057/Pro-Contra_Ist-die-Energiewende-ohne-Atomkraft-zu-schaffen

Am 9. Januar 2022 veröffentlicht

Ist die Energiewende ohne Atomkraft zu schaffen?
© APA/AFP/Fabrice COFFRINI

Pro

Ein Blick auf Fakten und Risiken zeigt, dass eine nachhaltige Energiezukunft ohne Atomkraft gestaltetet werden kann und auch sollte.

Christoph Pistner, Physiker

Fakt 1: Die Welt von morgen ist auf Strom gebaut. Ob Elektroautos oder grüner Wasserstoff – mit der steigenden Elektrifizierung wird der Stromverbrauch allein in Deutschland bis 2030 gegenüber 2018 um etwa neun Prozent oder 51 Terawattstunden wachsen. Dafür müssen innerhalb kurzer Zeit die Kapazitäten zur Stromerzeugung massiv ausgebaut werden – das ist in der Kürze der Zeit nur mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien möglich. Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ zeigt, dass dafür die Offshore-Windkraft auf 25 Gigawatt, die Windkraft an Land auf 80 Gigawatt und die Fotovoltaik auf 150 Gigawatt ausgebaut werden muss und kann.

Fakt 2: Strom aus Atom spielt schon heute nur noch eine kleine Rolle im Strommix. Weltweit wurden im Jahr 2020 nur rund zehn Prozent der Elektrizität und damit rund fünf Prozent des Primärenergieverbrauchs mit Strom aus Atomkraftwerken gedeckt.

Fakt 3: Europas laufende Atomkraftwerke sind alt und risikoanfällig. Die weltweit im Betrieb befindlichen Reaktoren sind im Schnitt älter als 30 Jahre. Wollte man aus „Klimaschutzgründen“ die heutigen Reaktoren weiterlaufen lassen, muss klar sein, dass ihr Betrieb mit zunehmenden Risiken verbunden ist. Verschleiß und Materialermüdung können die Technik störanfälliger machen. Sicherheitsanforderungen sind heute deutlich höher als bei der damaligen Planung der Anlagen. Nachrüstungen, die das Schutzniveau auch gegen Erdbeben, Extremwetterereignisse oder Angriffe von außen anheben, sind nur begrenzt möglich.

Fakt 4: Atomkraft ist gegenüber den Erneuerbaren sehr teuer. Laut dem World Nuclear Industry Status Report 2020 betragen die Kosten für die Stromerzeugung aus Atomkraft heute 15,5 Cent pro Kilowattstunde, verglichen mit 4,9 Cent für Solarenergie und 4,1 Cent für die Windkraft. Selbst in Frankreich, das derzeit mit dem Prototyp des EPR-Reaktors in Flamanville ein neues Kernkraftwerk baut, warnt der Rechnungshof vor den hohen Kosten für die Gesellschaft.

Auch ohne weitere Probleme zu nennen, wie die Gefahr schwerer Unfälle, den Umgang mit den hoch radioaktiven Abfällen oder die Gefahren einer Nutzung ziviler Anlagen und Materialien für Kernwaffenprogramme, ist der Bau und Betrieb von Atomkraftwerken mit hohen Kosten und Risiken verbunden. Wollen wir künftigen Generationen diese Risiken hinterlassen oder heute eine sichere und klimafreundliche Stromversorgung mit erneuerbaren Energien starten? Ich meine, die Antwort ist klar.

Zur Person: Christoph Pistner ist Physiker und leitet den Bereich Nukleartechnik und Anlagensicherheit am Öko-Institut e.V. in Deutschland. Er ist Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission in der Bundesrepublik.

Contra

Ganz ohne Atomkraft geht’s nicht. Europa soll aus Kohle und Öl aussteigen, um bis 2050 klimaneutral zu sein. Einige Staaten werden Atomkraft übergangsweise brauchen.

Martin Selmayr

Bei der Lektüre mancher Zeitung in diesen Tagen könnte man denken, die EU wolle in Österreich die Atomkraft einführen oder die Nuklearenergie als „grün“ klassifizieren. Beides ist Unsinn. Die 27 EU-Mitgliedstaaten haben in vielen Bereichen beschlossen, gemeinsam Politik zu machen, von der Landwirtschaft bis zur Währung. Die Energiepolitik gehört nur ansatzweise dazu. Zu unterschiedlich ist der Energiemix, für den sich jeder Staat entschieden hat.

Genauso wenig wie die EU die Atomkraft in Österreich einführen darf, kann sie Frankreich oder Tschechien verbieten, Atomenergie zu nutzen. In einem wichtigen Punkt aber haben die EU-Staaten ihre Energie-Souveränität beschränkt. Laut Pariser Klimaabkommen wollen sie die Erwärmung durch den Klimawandel auf 1,5 °C begrenzen und deshalb ihre Treibhausgasemissionen „bis spätestens 2050“ auf netto null reduzieren. Dies ist eine gewaltige Herausforderung. Nur 17 Prozent des EU-Energieverbrauchs kommen derzeit aus erneuerbaren Trägern, 13,5 Prozent aus Kernkraft, aber 70 Prozent aus Öl, Kohle und Gas.

Um CO2-neutral zu werden, will die EU privates Kapital mobilisieren. Kann auch privates Kapital für einen Atommeiler in Frankreich oder Tschechien zur Klimaneutralität beitragen? Die EU-Kommission meint: unter bestimmten, auf 38 Seiten geregelten Bedingungen, ja. Denn der Bau und Betrieb von Atomkraftwerken verursacht etwa so viel CO2 wie der von Windkraftanlagen. Deshalb räumt der Weltklimarat der Atomkraft eine Rolle beim Erreichen der Klimaziele ein. Der Steirer Arnold Schwarzenegger ist gar Atomkraft-Fan. Und auch Atomkraft-Gegnerin Greta Thunberg sieht sie als „einen kleinen Teil“ der Lösung.

Die EU-Kommission will dennoch Atomkraft nicht als „grün“, sondern nur als „Übergangstechnologie“ bis 2045 klassifizieren. Eine Bank, die mit klimafreundlichen Anlageformen um Kunden wirbt, muss zudem offenlegen, welcher Anteil in Atomkraft geht. Die Kraftwerke müssen höchste Sicherheitsstandards einhalten, und der Heimatstaat muss die Kosten der sicheren Endlagerung des Atommülls tragen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat das Ziel der Klimaneutralität zu Recht als Europas „Mann auf dem Mond-Moment“ bezeichnet. Wir sollten ehrlich sein: Wenn wir neben der Kohle jetzt auch die Atomkraft überall abschalten, werden wir die Klimaneutralität bis 2050 nicht schaffen. Man kann nicht mit einem Raumschiff gleichzeitig auf Mond und Mars landen. Eines nach dem anderen.

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