12 March 2015

Neue Energie (Germany): Portrait—Anerkannter Atom‑Autodidakt

Anerkannter Atom-Autodidakt

Update: Das komplette Interview ist unter dem Titel “Kernkraft-Kritiker aus Leidenschaft” in der April-Ausgabe der Neue Energie erschienen und am 9. April 2015 hochgeladen worden.

Neue Energie, 27.02.15

Bernward Janzing

Mycle Schneider ist einer der gefragtesten Kernenergie-Kenner weltweit, seine jährlichen Berichte zur internationalen Nuklearwirtschaft gelten in Expertenkreisen als Standardwerke. Dabei hat der Atomkraftkritiker nie einen Hochschulabschluss gemacht, das nötige Fachwissen hat er sich selbst beigebracht.

Er ist ein Freund griffiger Formulierungen: „Technologie-Geriatrie“ seien die Laufzeitverlängerungen von Meilern, die man derzeit in vielen Ländern erlebe. Aber keine Renaissance der Atomkraft, sagt Mycle Schneider. Dann rechnet er vor: 2002 war das Jahr des weltweiten Maximums an Reaktoren, seither bröckeln die Zahlen. Aktuell sind nach seinen Erhebungen noch 391 Anlagen in Betrieb. Viele davon seien so alt, dass die Zahl in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter sinken werde; in dem Umfang, wie Altmeiler vom Netz gehen werden, könne man nämlich keine neuen bauen. Die einzige Möglichkeit, den rapiden Schrumpfungsprozess der weltweiten Atomwirtschaft hinauszuzögern, seien massive Laufzeitverlängerungen – Geriatrie eben, für eine überalterte Technik.

Zwar spricht die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) derzeit noch von 439 laufenden Reaktoren, doch darunter sind viele Karteileichen. Zum Beispiel zählt die IAEO noch immer 48 japanische Meiler mit, obwohl das Land seit September 2013 keine einzige Kilowattstunde Atomstrom mehr erzeugt hat. Die zuständige Genehmigungsbehörde hat im September letzten Jahres erlaubt, die beiden Reaktoren Sendai1 und 2 rund tausend Kilometer südlich von Tokio wieder hochzufahren, bisher ist das jedoch nicht geschehen.

„Es ist an der Zeit, die internationalen Atomenergiestatistiken an die Realität anzupassen“, sagt Schneider. Er hat in seinen Auswertungen daher die neue Kategorie „Long-Term Outage“ eingeführt. Darunter fallen Meiler, die im gesamten Vorjahr und im ersten Halbjahr des Berichtsjahrs keinen Strom erzeugt haben. Doch die IAEO will diese Sichtweise nicht übernehmen. Schließlich wäre damit offenkundig, dass die Zahl der laufenden Reaktoren heute auf das Niveau von Mitte der achtziger Jahre zurückgefallen ist.

Mit solchen akribischen Analysen, die Schneider inzwischen alljährlich in seinem World Nuclear Industry Status Report publiziert, hat sich der gebürtige Kölner als einer der weltweit besten Kenner der Atomwirtschaft profiliert. Und das, obwohl er Autodidakt ist. Der heute 56-Jährige trägt keinen akademischen Titel, hat sich aber umso engagierter des Themas angenommen.

„Waldmetzgerei lag mir nicht"

Eigentlich hatte er als junger Mann Forstwirtschaft studieren wollen, doch nach einem Praktikum in einem Forstamt rückte er davon ab. „Die Waldmetzgerei lag mir nicht, ich hatte idealistischere Vorstellungen vom Waldbau“, sagt er. Nach der Schule jobbte er ein Jahr lang als Packer in einer Fabrik, machte dann Zivildienst und trampte anschließend zehn Monate durch die USA und Kanada, fasziniert von der politischen Landkommunenbewegung.

1981 kam er zurück nach Europa, reiste weitere zehn Monate durch verschiedene Länder, tat sich mit einem Clown aus Quebec zusammen und lebte vom Straßentheater und der Musik. In Paris wurde er schließlich heimisch, wo er noch heute wohnt.

Als überzeugter Kriegsdienstverweigerer beschäftigte ihn vor allem die militärische Seite der Atomkraft. Mit Gegnern der zivilen Atomkraft hatte er hingegen als junger Erwachsener wenig Kontakt. Der Friedensbewegung aber war er verbunden, und so gründete er mit anderen einen Verein ehemaliger Zivildienstleistender. Dann verfasste er erste Zeitungsartikel: Für Deutschland schrieb er über Kriegsdienstverweigerung in Frankreich – und umgekehrt. Damals habe niemand gewusst, wie es im Nachbarland zuging, erinnert er sich.

Und so reifte seine Idee, einen professionellen Infodienst zum Thema Atomkraft aufzubauen. Denn alles, was er in dieser Hinsicht bislang kannte, waren politische, oft einseitige Publikationen. „Ich bin monatelang rumgereist, um rauszukriegen, ob es einen solchen Infodienst schon gibt“, erzählt Schneider. In Antwerpen stieß er auf den International Peace Information Service, den er als recht professionell empfand. In Amsterdam entdeckte er zugleich WISE, den World Information Service on Energy. Anschließend baute er ab dem Jahr 1983 WISE Paris auf.

In den ersten drei Jahren konnte er davon nicht leben, er gab parallel privaten Deutsch- und Gitarrenunterricht und spielte im Pariser Theater „Essaïon“. Zugleich arbeitete er sich immer intensiver in die Atomthemen ein: „1983 fing ich mit Plutonium und dem Schnellen Brüter an“, sagt er. Ein Jahr – ein Thema, das war seine Lernstrategie. Der Erfolg seiner Arbeit ließ nicht lange auf sich warten, bald kamen die großen Wissenschaftsmagazine Science und Nature auf ihn zu, wenn sie Stellungnahmen zu Atomthemen brauchten. Und zunehmend florierte sein Projekt auch betriebswirtschaftlich.

Politiker, Forscher und Journalisten als Kunden

Die Kunden kamen aus Forschung und Politik, aus Nichtregierungsorganisationen und mitunter auch aus dem Mediensektor. Sie erhielten vor allem individuell zugeschnittene Dokumentationen zur Atomwirtschaft; Grundlage war ein inzwischen beachtliches Archiv. Aktuelle Ereignisse machten Schneider immer wieder zum gefragten Experten: Im Rahmen der Debatte um die „nuklearen Bestrebungen der Bundesrepublik Deutschland“ organisierte er 1986 für die Grünen eine Anhörung im Bundestag, 1987/88 nach dem Transnuklear-Skandal – die Firma hatte illegal Fässer mit radioaktivem Müll aus Deutschland nach Belgien verschoben – beriet er das Europaparlament. Nach Fukushima gab er den Medien an manchen Tagen 20 bis 30 Interviews.

Bekannt wurde Schneider vor allem durch den World Nuclear Industry Status Report, den er 1992 erstmals veröffentlichte. Der Bericht durchleuchtet die internationale Atomwirtschaft – ihre energiepolitische Bedeutung und die wirtschaftliche Situation der Branche. Seit 2007 erscheint das Werk – mit einer Ausnahme – jährlich, finanziert von unterschiedlichen Geldgebern: 2007 von den Grünen im Europaparlament, 2009 vom Bundesumweltministerium. Seit 2012 gibt Schneider den Report, von unterschiedlichen gemeinnützigen Sponsoren unterstützt, selbst heraus. In der jüngsten Ausgabe von Sommer 2014 ist nachzulesen, wie stark der Atomstrom global an Bedeutung verloren hat: Im Jahr 2013 stammten nicht einmal mehr elf Prozent aller weltweit erzeugten Kilowattstunden aus Kernreaktoren, Mitte der neunziger Jahre waren es 17 Prozent.

Natürlich hängt dieser Rückgang auch mit dem steigenden Energieverbrauch zusammen, der den relativen Anteil der Atomenergie schrumpfen lässt. Aber selbst in absoluten Zahlen sinkt die Nuklearstrom-Menge seit einigen Jahren: 2359 Terawattstunden wurden 2013 weltweit mittels Kernspaltung erzeugt, der historische Maximalwert von 2660 Terawattstunden aus dem Jahr 2006 wurde damit bereits um mehr als elf Prozent unterschritten. Und das nicht erst seit Fukushima. Schon in den Jahren zuvor war ein rückläufiger Trend erkennbar. Vorreiter dieser Entwicklung ist Europa: In den 28 EU-Ländern sind aktuell noch 131 Atomreaktoren in Betrieb, im Spitzenjahr 1988 waren es 46 mehr.

2003 zieht sich Schneider aus WISE Paris zurück. Der Informationsdienst, als Verein organisiert, hat inzwischen zehn Vollzeitstellen, er steht auf eigenen Beinen; 2012 erhält Schneiders Nachfolger Yves Marignac für seine Arbeit den Nuclear Free Future Award in der Kategorie „Lösungen“. Schneider selbst strebt nach mehr Unabhängigkeit und wird selbständiger Berater. Seither hat er kein Personal mehr. Seine Kunden kommen inzwischen nur noch zu einem kleinen Teil aus Europa, sondern überwiegend aus den USA und aus Asien. In den Vereinigten Staaten berät er zeitweise mehrere Stiftungen. Zudem ist er Mitglied im International Panel on Fissile Materials der Princeton University, einer Gruppe von unabhängigen Nuklearexperten und ehemaligen hochrangigen Diplomaten aus 16 Ländern.

Von der Atomlobby diskreditiert

Auf der anderen Seite versuchte die Atomlobby immer wieder, Schneider in Misskredit zu bringen. Etwa vor einem Untersuchungsausschuss in der französischen Nationalversammlung, wo er als Experte geladen war: „Ein ehemaliger konservativer Parlamentspräsident fragte mich vor versammelter Runde nach meiner akademischen Laufbahn“, erzählt Schneider. „Dabei wusste der genau, dass ich Autodidakt bin.“ Doch Schneider lässt sich nicht unterkriegen: „Man muss als Autodidakt, als Nobody, der keine Institution vertritt, doppelt so gut sein.“ Fehler könne man sich praktisch nicht erlauben: „Das bedeutet erheblich mehr Arbeit, aber in der Regel auch eine höhere Zuverlässigkeit.“

Kein Wunder, dass die Pragmatiker unter seinen Kunden das schätzen: Seit Fukushima interessieren sich auch Großbanken für seine Expertise. Consultant-Plattformen wie Cognolink, GLG oder Guidepoint fragen an, weil sie dem Urteil ihrer bisherigen Experten nicht mehr trauen, sondern Parteilichkeit wittern. So tat zum Beispiel der ehemalige Generaldirektor der IAEO, Hans Blix, die Reaktorkatastrophe von Fukushima als „a bump in the road“ ab. Fukushima, nur ein Holperstein auf dem Weg der Atomkraftentwicklung?! Das klingt vielen, die nach einer sachgerechten Einschätzung der Technik suchen, dann doch allzu sehr nach dumpfer Durchhalteparole.

Angesichts der ökonomischen Turbulenzen in der Kernkraftbranche – der weltgrößte Atomkonzern Areva etwa rechnet für 2014 mit einem Verlust von knapp fünf Milliarden Euro – kann Schneider nur lachen, wenn die Atomwirtschaft von ihren globalen Neubauplänen spricht: „Heute sind weniger Reaktoren in Bau als noch vor einem Jahr.“ Und man müsse sich mal ansehen, welche Länder nun für die Renaissance stehen sollen – Jordanien zum Beispiel, ausgerechnet einer der wasserärmsten Staaten der Erde, dabei brauchen Atomreaktoren extrem viel Kühlwasser. Wirtschaftspolitisch sinnvoll scheint das nicht. Da stelle sich unweigerlich die Frage; „Wenn es nicht energiepolitische Beweggründe sind, die ein Land zum Ausbau der Atomkraft veranlassen, was ist es dann?“ Sicher ist, dass bei diesem Thema auch andere Faktoren eine Rolle spielen; etwa die Hoffnung auf einen Prestigegewinn, oder auch militärische Ambitionen.

Fakten sind entscheidend, nicht die Ideologie

Solch nüchterne Analysen sind Schneiders Markenzeichen, sie öffnen ihm viele Türen: „Ich kann in Tschechien etwa einen Termin mit Greenpeace haben und danach einen mit dem Chefberater des Premierministers“, sagt er. Sie alle respektieren sein Wissen und seine Kompetenz. Zwar ist seine kritische Einstellung zur Atomkraft allseits bekannt, doch Kritik muss bei ihm stets auf Fakten basieren, nicht auf Ideologie oder Emotionen: „Ich bin Systemanalytiker“, sagt er, „seit 30 Jahren.“

Und so beschäftigt er sich längst nicht mehr nur mit der Atomkraft, sondern auch mit Alternativen zur ihr. 2013 wurde der Autodidakt etwa konsultiert, um bei der Entwicklung eines umfassenden Energiekonzepts für Seoul zu helfen, von Energiedienstleistungen bis hin zu Tageslichtkonzepten für Gebäude. Dafür stellte Schneider ein internationales Beraterteam zusammen. International Energy Advisory Council, kurz: IEAC, nennt sich die neue Organisation, zu der auch der Vordenker in Energiefragen Amory Lovins gehört. Um die Umstellung auf Erneuerbare weltweit voranzubringen, will sie ihre Kompetenz künftig auch anderen Städten, Regierungen und Organisationen zur Verfügung stellen – und so neue Ideen in die Welt hinaus tragen: das Gegenteil von Technologie-Geriatrie.

Die Langversion dieses Portraits lesen Sie in der April-Ausgabe des Magazins neue energie.

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