22 January 2022

Tamedia/Der Bund (Switzerland)

Kommt das Comeback der Atomkraft?

Energieversorgung Neuer Reaktor in Finnland, Debatte in der EU um Förderung der Kernkraft: Die nukleare Energie erhält eine neue Strahlkraft. Hält sie an? Und was heisst das für die Schweiz?
Source : Der Bund: Kommt jetzt das Comeback der Kernkraft? https://www.derbund.ch/kommt-jetzt-das-comeback-der-kernkraft-215591987016

von Stefan Häne & Martin Läubli Veröffentlicht am 4. Januar 2022

Die Kernkraft schien nach dem Unfall von Fukushima 2011 zumindest in Europa ein Auslaufmodell zu sein. In Deutschland gehen Ende Jahr die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz, die Schweiz hat den schrittweisen Ausstieg beschlossen, und seit 2019 ist das KKW Mühleberg nicht mehr in Betrieb.

Nun scheint die Kernkraft in Europa wieder Boden gutzu machen: Finnland nimmt mit grosser Verspätung den fünften Atomreaktor in Betrieb, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will neue Kernkraftwerke bauen, und die EU-Kommission schlägt ein umstrittenes Gesetz vor, das die Kernkraft als «nachhaltig» und damit förderungswürdig taxieren kann. Erlangt die Nuklearenergie neue Strahlkraft?

Der neue finnische Kernreaktor Olkiluoto 3 (links) ist nach jahrelanger Verspätung nun am Netz.
Foto: Antti Yrjonen (Getty Images)

Die Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Was bedeutet der Gesetzesentwurf der EU-Kommission?

Für die Europäische Union ist die Kernenergie eine Option, um die ehrgeizigen Klimaziele des «Europäischen Green Deal» umzusetzen. Die Behörde legt in einer sogenannten Taxonomie fest, welche wirtschaftlichen Investitionen als klima- und umweltfreundlich gelten.

Die Taxonomie sieht drei Untergruppen vor: Die Atomkraft gehört zur Gruppe der Technologien, die als Übergangsenergie gebraucht werden, bis eine klimafreundliche Wirtschaft erreicht wird. Konkret heisst das: Ökofonds zum Beispiel könnten in Zukunft auch in Atomkraftwerke investieren. Der Gesetzesentwurf sieht aber Auflagen vor: Als nachhaltig gelten nur Atomkraftwerke, die auf dem neuesten technischen Stand sind und deren Betreiber ein konkretes Konzept vorlegen können für ein bis spätestens 2050 realisierbares Endlager für hoch radioaktive Abfälle. Mitte Januar will die Behörde den Entwurf verabschieden. Das EU-Parlament hat dann Zeit, die Vorlage zu überprüfen.

Gibt es Widerstand?

Fünf Staaten fordern die Kommission auf, die Kernenergie aus der Taxonomie zu streichen: Deutschland, Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal. Manche Klimaforschende sehen in der Kernkraft keinen Gewinn für den Klimaschutz. Claudia Kemfert, deutsche Wirtschaftswissenschaftlerin und Mitglied von «Scientists for Future», stellt fest: «Der notwendige, schnelle Umbau des Energiesystems geht in der erforderlichen Geschwindigkeit nur mit erneuerbarer Energie.» Angesichts der Planungs- und Bauzeiten von zwei Jahrzehnten könne Kernkraft in den für die Bekämpfung der Klimakrise relevanten Zeiträumen keine Rolle spielen.

Was bringt der Start des neuen finnischen Reaktors?

Der finnische Kernkraftreaktor Olkiluoto 3 soll Anfang Juni operationell in Betrieb gehen und etwa 14 Prozent der finnischen Stromproduktion liefern. Der Kernreaktor der dritten Generation, die im Gegensatz zu den früheren Modellen eine grössere Sicherheit ausweist, sollte zum Aushängeschild der Nuklearindustrie werden. Baustart war August 2005, vier Jahre später hätte der erste Atomstrom fliessen sollen. Die Verspätung beträgt also rund zwölf Jahre. 3,2 Milliarden Euro waren für den Bau budgetiert, nun wird gemäss dem «World Nuclear Industry Status Report» mit Kosten von 8,5 Milliarden Euro gerechnet.

In den letzten 20 Jahren wurden nur zwei neue Reaktoren gestartet, in Tschechien und Rumänien. Dennoch scheint die Kernkraft neben Finnland namentlich in Frankreich, Grossbritannien, Schweden und einigen Ostblockstaaten ein grosses Thema zu werden. Im Zentrum stehen kleine modulare Reaktoren (Small Modular Reactors, SMR).

Welche Vorteile haben SMR?

Die kleinen modularen Reaktoren leisten bis zu 300 Megawatt. Zum Vergleich: Das Kernkraftwerk Beznau besteht aus zwei Leichtwasserreaktoren von je 365 Megawatt. Es gibt inzwischen gemäss der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) mehr als 70 verschiedene Designkonzepte für SMR. Etwa ein Drittel basiert auf der erprobten Technik der Leichtwasserreaktoren wie bei Beznau. Die Idee der Designer ist, dass die wichtigsten Elemente als Serienfertigung produziert und als Module am Standort zusammengesetzt werden. So sollen die Automatisierung erhöht, die Bauzeit verringert und die Investitionskosten reduziert werden.

Die Schweizer Energiestiftung (SES) führt in einem kürzlich erschienenen Bericht auf, dass sich SMR nicht rechnen würden, weil zu wenig Strom produziert werden könne. Zudem würden die tiefen Kosten für die Infrastruktur das Sicherheitsrisiko erhöhen. Der emeritierte ETH-Professor für Kernenergiesysteme Horst-Michael Prasser bestätigt in einem Interview, dass zwar weniger Geld für die Sicherheit zur Verfügung stehe. Moderne Anlagen hätten aber generell ein hohes Sicherheitsniveau.

Wann sind diese Reaktoren marktfähig?

Die russische Akademik Lomonossow ist das weltweit erste schwimmende Kernkraftwerk. Es ist seit Mai 2020 in Betrieb, hat allerdings nur zwei kleine Reaktoren von 35 Megawatt Leistung. Andere SMR-Prototypen sind gemäss IAEA im Bau oder sind im Zulassungsverfahren, etwa in Argentinien, China, Kanada, Südkorea und den USA. Fachleute schätzen, dass in 8 bis 10 Jahren verschiedene Prototypen in Betrieb sein werden. So will Grossbritannien in den frühen 2030er-Jahren die erste SMR-Demonstrationsanlage starten. Für deren Entwicklung will das Königreich mehr als 400 Millionen Euro investieren. Frankreich will bis 2030 die Nuklearbranche mit einer Milliarde Euro unterstützen. Über die Gesamtkosten eines SMR kann derzeit nur spekuliert werden. Nur so viel: Allein die Entwicklung und Zertifizierung des SMR-Projekts der US-Firma Nuscale wird etwa 1,5 Milliarden Dollar kosten. Das Klein-KKW soll 2030 ans Netz.

Wie sieht die Entwicklung weltweit aus?

Derzeit sind weltweit in 33 Staaten 415 Kernreaktoren in Betrieb. Das zeigt der kürzlich veröffentlichte «World Nuclear Industry Status Report». Die Kapazität ist zwar gegenüber dem Vorjahr um 1,9 Prozent gestiegen, liegt aber mit 369 Gigawatt im Vergleich zum früheren Maximum im Jahr 2006 (367 Gigawatt) nur unwesentlich darüber. Die Stromproduktion weltweit ist hingegen 2020 gegenüber dem Vorjahr zum ersten Mal seit 2012 um 3,9 Prozent gesunken. Ohne China beträgt die Abnahme sogar gut 5 Prozent - das ist der tiefste Wert seit 1995.

Der Anteil der Kernenergie an der globalen Stromproduktion zeigt weiterhin einen - langsamen - Abwärtstrend. Er betrug im letzten Jahr 10,4 Prozent - das ist deutlich unter dem Spitzenwert von 17,5 Prozent im Jahre 1996. Für diese negative Entwicklung ist sicherlich auch der Lockdown der Industrie durch die Covid-19-Pandemie mitverantwortlich. Trotzdem erwartet die IAEA in ihrem jährlichen Ausblick eine Verdoppelung der Kapazität bis 2050.

Gibt es in der Schweiz Pläne für ein Atom-Comeback?

Die SVP will das Neubauverbot kippen - mit einer Änderung des Kernenergiegesetzes. Heute sieht es nicht danach aus, dass sie dafür im Parlament eine Mehrheit finden wird. Klappt der parlamentarische Weg nicht, lanciert der Energie-Club Schweiz eine Volksinitiative, wie er im letzten November angekündigt hat. Gemäss Initiativtext soll der Bund den Ersatz von fossilen Energiequellen durch eine umwelt- und klimaschonende Stromproduktion regeln. «Dabei gibt es keine Technologieverbote.»

Was sagen Befürworter?

Das Nuklearforum Schweiz sieht darin die «logische Konsequenz der wissenschaftlichen Faktenlage». Die Kernenergie sei eine der CO2-ärmsten Arten der Stromerzeugung. Vanessa Meury, Präsidentin des Energie-Clubs Schweiz, sagt, international werde die Taxonomie die Aspekte der Finanzierung von Kernkraftwerken positiv beeinflussen. Das Argument der Anti-Atom-Bewegung, Kernenergie sei zu teuer, werde nun an Kraft verlieren. Meury hofft, «dass der eine oder andere Politiker in der Schweiz ebenfalls zu einer Neubeurteilung der Situation kommt».

Was sagen Atomgegner?

Nationalrat Bastien Girod (Grüne) sagt, AKW seien wegen der ungelösten Abfall- und Sicherheitsprobleme alles andere als grün. Dass die Entwicklung in der EU zum Gamechanger in der Schweizer AKW-Debatte wird, glaubt er nicht. Nur schon ökonomisch habe ein AKW-Neubau keine Chance. Atomgegner sehen aber gleichwohl zwei Gefahren: Beschäftige sich die Politik nun wieder mit der Atomfrage, gehe Zeit und Geschlossenheit für eine umweltfreundliche Energiewende verlustig. Zudem sei der Langzeitbetrieb bestehender Meiler ein Sicherheitsrisiko.

Sind die Stromunternehmen interessiert?

Für die grossen Stromunternehmen in der Schweiz ändert sich die Ausgangslage nicht. Solange hierzulande keine neuen Kernkraftwerke gebaut werden dürfen, sind Fragen nach unternehmerischem Interesse an Neubauten theoretischer Natur. So betonen Axpo und Alpiq, sich weiterhin auf den Ausbau der erneuerbaren Energien zu konzentrieren. Laut Axpo kann die neue Taxonomie der Kernkraft in Europa aber neue Einsatzbereiche und bessere Möglichkeiten in Bezug auf Investitionen verschaffen: «Zum Beispiel könnte mit Kernenergie dann grüner Wasserstoff hergestellt werden.»

Derzeit sind weltweit in 33 Staaten 415 Kernreaktoren in Betrieb.