von Marina Delcheva Veröffentlicht am 8. Januar 2022
Eigentlich ist die EU-Taxonomie nur ein Leitfaden für Investoren und richtet sich primär an den Finanzmarkt. Sie ist ein Klassifizierungssystem für nachhaltige Finanzprodukte und Wirtschaftstätigkeiten. So sollte Greenwashing vermieden werden und das Label „grün“ nach ganz klaren, EU-weit geltenden Kriterien vergeben werden. Also eigentlich kein großer Aufreger.
Der in der Silvesternacht an alle 27 EU-Regierungen verschickte Taxonomie-Entwurf - am 12. Jänner wird er offiziell vorgestellt - hat es aber in sich und spaltet derzeit die EU-Staaten. Denn das Label „grün“ wird unter gewissen Bedingungen nun auch an Atom- und Gaskraftwerke vergeben. Der Entwurf sieht drei mögliche Kategorien vor: grün, ermöglichend und übergangsweise. Gas und Kernkraft sollen unter festgeschriebenen Bedingungen in die dritte Kategorie fallen, also „übergangsweise“ als Brückentechnologie genutzt werden. Die Kommission argumentiert das mit dem CO2-freien Stromerzeugungsprozess bei der Atomkraft und dem niedrigeren CO2-Ausstoß bei Gas etwa gegenüber der Kohleverbrennung.
Österreich hat schon eine Klage gegen die Taxonomie angekündigt und mit Deutschland, Luxemburg, Portugal und Belgien Verbündete in der Anti-Atomlobby. Dass der Entwurf doch noch gekippt wird, ist aber sehr unwahrscheinlich. Hierfür müssten 20 von 27 EU-Staaten, die mindest 65 Prozent der EU-Bürger repräsentieren, dagegen stimmen. Und das ist unwahrscheinlich, denn die Atom-Lobby in der EU ist groß.
Insgesamt betreiben derzeit 14 EU-Staaten Atomkraftwerke. Polen plant als 15. den Bau eines Kraftwerks. Konkret sieht der Entwurf übrigens vor, dass der Bau von neuen Kernkraftwerken nur dann als grün eingestuft wird, wenn er technisch auf dem neuesten Stand ist, eine alte fossile Anlage ersetzt und einen Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für Atommüll ab 2050 enthält.
Dass Atomstrom nun „grün“ wird, ist vor allem Frankreich zu verdanken. Das Land baut gerade einen Reaktor in Flamanville und deckt gut 70 Prozent seines Strombedarfs mittels Atomkraft ab. Präsident Emmanuel Macron kündigte den Bau von „Mini-Atomkraftwerken der neuen Generation“ an und sieht diese Energiequelle als einzige Möglichkeit, die Klimaziele und mehr Energie-Autonomie zu erreichen. Dem „Spiegel“ zufolge soll Brüssel schon am 18. Jänner über den Entwurf entscheiden. Frankreich bezeichnete diesen als „endgültig“ und nicht verhandelbar.
Aber auch die osteuropäischen Länder wie Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Slowenien setzten sich massiv zumindest für den Fortbestand der Kernkraft ein. Einerseits betreiben sie schon Atomkraftwerke. Alle nicht kalkulierbaren Risiken eines Reaktorunfalls und das ungelöste Problem der Atommülllagerung sind quasi schon da, also warum nicht weitermachen, so das Kalkül. Gleichzeitig ist der Anteil an Kohle in diesen Ländern teilweise massiv. Polen deckt zum Beispiel 70 Prozent seines Strombedarfs mittels Kohle. Das gesamte Energiesystem auf Solar-, Wasser- und Windkraft umzustellen, würde immense Anstrengungen und sehr hohe Investitionen in sehr kurzer Zeit erfordern.
Zeit, um den CO2-Ausstoß zu senken, haben die EU-Staaten angesichts der steigenden Erderwärmung der EU-Klimaziele aber nicht. Bis 2030 will die Staatengemeinschaft den Ausstoß von Treibhausgasen um 55 Prozent gegenüber 1990 senken, bis 2050 will die EU übers Jahr gerechnet klimaneutral sein. Deshalb wird die Kernkraft in einigen Ländern nun als schneller, einfacher Weg aus diesem Dilemma gesehen.
Deutschland hingegen hält an seinem Atomausstieg 2022 fest. Das Land wird deshalb aber verstärkt Gas als Brückentechnologie benötigen, um den hohen Energiebedarf der Industrie zu decken und auch, um die derzeit bestehende Volatilität der erneuerbaren Energien auszugleichen. Medienberichten zufolge findet sich auch deswegen Gas im Taxonomie-Entwurf wieder. Bis 2030 können neue Gasanlagen als „grün“ klassifiziert werden, wenn sie alte fossile Anlagen ersetzen und der Energiebedarf durch erneuerbare Quellen nicht gedeckt werden kann.
Um den vorgegebenen CO2-Pfad und damit Klimaneutralität 2050 zu erreichen, müssen massive Summen in den Umbau des Energiesektors fließen. Laut dem „New Green Deal“ der EU-Kommission müssen in den kommenden Jahren über eine Billion Euro investiert werden. Der Unternehmensberater McKinsey rechnet allein für Deutschland mit einem notwendigen Investitionsvolumen von 240 Milliarden Euro pro Jahr, wenn die größte Volkswirtschaft Europas 2045 klimaneutral wirtschaften soll.
Und hier kommt wieder die EU-Taxonomie ins Spiel. Denn der Leitfaden ist nicht nur richtungsweisend für private Investoren, sondern für die Verteilung öffentlicher Gelder. Der Anlagenbau von Gaskraftwerken und Atomreaktoren wird auch mit Steuergeld finanziert. Es ist zu erwarten, dass sich auch staatliche Förderungen an der Taxonomie orientieren.
Eigentlich gab es schon im Juni 2020 einen fertigen, mit Klimawissenschaftern abgestimmten Verordnungsentwurf zur Taxonomie - ohne Gas und Atomkraft. Der Einwand der Wissenschaft damals: Kernkraft könne aufgrund des ungelösten Atommüllproblems und Risiken einer Havarie nicht nachhaltig sein. Und bei der Gasverbrennung entstehe eben noch immer viel CO2 im Vergleich zu erneuerbaren Energieträgern.
„Dann hat ein beinhartes politisches Abdealen schmutziger Technologien begonnen, hinter dem Rücken der Wissenschaft“, sagt Reinhard Uhrig von der Umwelt-NGO Gobal 2000 zur „Wiener Zeitung“. Unweltschützer laufen EU-weit Sturm gegen die neue Taxonomieverordnung und werfen der Kommission Greenwashing vor.
Den Vorwand, ohne Atom- und Gaskraftwerke ließe sich die Energiewende mittelfristig nicht stemmen, lässt Uhrig nicht gelten. „Ein Atomkraftwerk ist (für die gleiche Leistung, Anm.) vier Mal so teuer wie Wind- und Solarenergie.“ Atomkraftwerke seien zudem ohne staatliche Förderungen nicht rentabel. Laut dem World Nuclear Industry Status Report kostet der Bau eines Kernkraftwerks im Schnitt 12 bis 14 Milliarden Euro. Von der Planung bis zur Inbetriebnahme dauert es oft 20 Jahre.
„Wenn wir jetzt EU-weit mehr in den Bau von Gas- und Atomkraftwerken investieren, riskieren wir auf Jahrzehnte hin Lock-in-Effekte“, meint Uhrig. Wenn man genug Geld in die Hand nehme und schnell Solar- und Windanlagen ausbaue, ließe sich der Umbau in Richtung klimaneutraler Energiesysteme auch in Ländern mit weniger Wasserkraft und einem hohen Kohleanteil bewältigen, meint er.