Neues Deutschland
Von Haidy Damm, 22.11.2017 Lesedauer: 4 Min.
Die Atomindustrie steht weltweit vor einem »Wendepunkt«, da ist sich Autor Mycle Schneider sicher. Nach einer langen Phase quasi-religiöser Debatte sei klar: »Atomenergie hat keine Zukunft«, sagte Schneider am Dienstag bei der Vorstellung des aktuellen World Nuclear Industry Report (WNISR) in Berlin. Seit 2007 liefern er und ein Team vom sechs WissenschaftlerInnen einen jährlichen, detaillierten Lagebericht zur Atomkraft. Demnach betreiben aktuell 31 Staaten 403 Atomkraftwerke, das sind 35 weniger als 2002.
Als Indizien für den »Niedergang der Atomindustrie« sehen Schneider und seine KollegInnen, dass weltweit immer weniger Reaktoren gebaut werden und sich bei den bereits gestarteten Bauprojekten die Inbetriebnahme erheblich verzögert. Auch erzeugen AKW immer weniger Strom. So lag die Erzeugungskapazität zuletzt bei 351 Gigawatt, im Rekordjahr 2006 waren es noch 368 Gigawatt.
2017 befanden sich 53 AKW in 13 Ländern im Bau, wobei deren Bauzeit zwischen vier und 40 Jahren liegt - einige werden wohl nicht mehr fertig gebaut. Zudem gingen 2016 zehn neue Reaktoren an den Start, die Hälfte davon in China. Jeweils ein Atomkraftwerk wurde in Indien, Pakistan, Russland, Südkorea und den Vereinigten Staaten in Betrieb genommen. In der ersten Jahreshälfte 2017 gingen in China und Pakistan je ein weiteres AKW an den Start während im gleichen Zeitraum zwei alte Meiler in Südkorea und Schweden vom Netz gingen.
Die alten Reaktoren sind es, die den Autoren und anderen Experten Sorgen bereiten. Denn weil es weniger Neubauprojekte gibt, versuchen Unternehmen und Regierungen die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern. Deren Durchschnittsalter liegt laut WNISR aktuell bei knapp 30 Jahren, 234 liefern seit mindestens 31 Jahren Strom, immerhin 64 Meiler laufen seit mindestens 41 Jahren. Ältere Anlagen haben aber ein höheres Sicherheitsrisiko, so Schneider.
So plant etwa Frankreich erhebliche Nachrüstungen und hatte bei der Klimakonferenz in Bonn angekündigt, das bisher geltende Ziel, den Atomanteil an der Stromproduktion bis 2025 auf 50 Prozent zu senken, auszusetzen. Als neue Frist stehen nun 2030 oder 2035 zur Debatte - im Gegenzug will das Land bis 2021 aus der Braunkohle aussteigen, um seine Klimaschutzziele einzuhalten.
Jetzt angesichts des Klimawandels längere Laufzeiten zu fordern sei eine »Hochrisikostrategie«, sagte auch die Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms.
Auch Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin sieht in der Atomenergie keine Alternative im Kampf gegen die Klimaerwärmung. »Atomkraft ist für den Klimaschutz unnötig«, sagte sie am Dienstag in Berlin. Das Klimaziel von 1,5 Grad Erderwärmung könne auch ohne das »Auslaufmodell« Atomenergie erreicht werden.
Das DIW hat in einer aktuellen Studie die Rolle der Kernkraft für den Klimaschutz untersucht und kommt zu dem Schluss: »Klimaziele können weltweit günstiger ohne Atomkraft erreicht werden.« Die Leiterin der DIW-Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt Kemfert erklärte, Atomenergie sei »einfach zu teuer und nicht wettbewerbsfähig«. So würden in den meisten Untersuchungen die Kosten der Atomkraft »generell massiv unterschätzt«, denn sowohl die Kosten für den Bau als auch den Rückbau und die Endlagerung würden ignoriert.
»Gleichzeitig werden in vielen Studien die Kosten der erneuerbaren Energien überschätzt«, so Kemfert. Günstiger sei ein Energiemix aus Solar-, Wind- und Wasserkraft sowie Bioenergie, unterstützt durch Technologien zur Energiespeicherung und Koppelung der Sektoren Elektrizität, Wärme und Verkehr. Für einen solchen Mix sei die Atomkraft neben den hohen Kosten auch zu wenig flexibel. Wer in Atomenergie investiere, behindere also günstigere Energieformen, schlussfolgert Kemfert.
Eine Renaissance der Atomenergie scheint also nicht in Sicht. Auch China bildet hier trotz Neubauprojekten keine Ausnahme. Die Volksrepublik ist inzwischen der weltweit größte Markt für Ökostromanlagen. Laut WNISR-Bericht verdoppelte China 2016 seine Solarkapazitäten auf 78 Gigawatt. Die Windkapazitäten stiegen um 20 Gigawatt auf knapp 150 Gigawatt. »Das ist mehr als in ganz Europa zusammen«, schreiben die Autoren. Die fünf neu in Betrieb genommenen AKW produzieren dagegen nur 4,6 Gigawatt Strom. Weltweit stieg die Stromproduktion von Kernkraftwerken 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 1,4 Prozent, die von Windkraft jedoch um 16 Prozent und die von Photovoltaik um 30 Prozent. Im Wettbewerb um klimafreundliche Energie kann die Atomindustrie nicht mithalten.