16 January 2017

Frankfurter Rundschau (Germany): “Wir brauchen andere Energie‑Konzepte” [Interview mit Mycle Schneider]

“Wir brauchen andere Energie-Konzepte”

Frankfurter Rundschau, 13. January 2017

Von THORSTEN KNUF

Energie-Experte Mycle Schneider über den Niedergang der Atomkraft, den Siegeszug der Erneuerbaren und die Frage, warum Sonnenlicht viel besser als jede LED-Leuchte ist.

Sechs Jahre nach der Reaktorkatastrophe stecken viele Atomkraft-Konzerne in einer tiefen Krise. In Deutschland soll der letzte Meiler bis Ende 2022 vom Netz gehen. Befürworter der Technologie führen allerdings ins Feld, dass Akw bei der Stromerzeugung keine Treibhausgase ausstoßen und damit auch aus Klimaschutzgründen eine Alternative zu Gas und Kohle seien. Für den Atomexperten Mycle Schneider ist das kein überzeugendes Argument.

Herr Schneider, stellen wir uns vor, jemand meint es gut und schenkt Ihnen ein paar Aktien von Atomkonzernen wie RWE, Électricité de France oder des weltgrößten Nuklear-Dienstleisters Areva. Würden Sie sich freuen und artig bedanken?

Höflich bedanken würde ich mich schon. Danach würde ich vermutlich eine Aktie behalten und den Rest verschenken. Sofern sich überhaupt jemand fände, der sie haben möchte. Der Wertverlust der Papiere in den vergangenen Jahren war enorm. EDF hat diese Woche den historischen Tiefstand erreicht, ein Verlust von 90 Prozent seit Ende 2007. Man kann es so sagen: Aktien von Atomkonzernen wären kein besonders attraktives Geschenk. Nachdem sie jahrzehntelang Milliardengewinne eingefahren haben, ist die Situation der meisten Unternehmen dramatisch.


Zur Person Mycle Schneider, Jahrgang 1959, ist unabhängiger Berater für Energie- und Atompolitik und Träger des Alternativen Nobelpreises. Er berät Regierungen, Parlamente, Behörden und Organisationen rund um den Globus. Schneider ist Herausgeber des renommierten „World Nuclear Industry Status Report“, der jährlich einen detaillierten Überblick über die Entwicklung der Atombranche gibt. Er gehört überdies dem International Energy Advisory Council an, einem Expertengremium, das die Energiewende weltweit voranbringen will. Schneider ist deutscher Staatsbürger, er lebt und arbeitet in Paris. thk


Wie konnte es so weit kommen? Vor allem die Kraftwerksbetreiber sind mit einer ganzen Serie von Herausforderungen konfrontiert: Stark gestiegene Produktionskosten und knallharte Konkurrenz, vor allem von Seiten der erneuerbaren Energien, die ihrerseits immer billiger werden. Dazu kommen riesige Schuldenberge und Abschaltungen von Kraftwerken früher als geplant – was auch bedeutet, dass die immensen Abrisskosten früher fällig werden. Ebenfalls in diese Liste gehören zusätzliche Ausgaben für Sicherheitsmaßnahmen nach der Katastrophe von Fukushima und die Abwertungen der Atomunternehmen durch die Rating-Agenturen. Es wird für die Konzerne teurer, sich Geld am Kapitalmarkt zu beschaffen.

Hat die Atomkraft überhaupt eine Zukunft in Europa? Man muss unterscheiden zwischen existierenden Anlagen und Neubauten. Der Neubau von Atomkraftwerken ist unter marktwirtschaftlichen Bedingungen heute weltweit nicht mehr möglich. Punkt. Wenn heute irgendwo ein Meiler neu gebaut wird, ist er hoch subventioniert. Oder er wird aus anderen Motiven heraus errichtet, zum Beispiel aus geostrategischen oder militärischen. Solche Beweggründe spielen etwa für Frankreich und Großbritannien mit eine Rolle.

Und wie sieht es mit den Bestandsanlagen aus? In den meisten Marktsegmenten verlieren existierende Meiler Geld. Für die Betreiber ist das auf Dauer ein unhaltbarer Zustand. In der Schweiz ist kürzlich der Eigentümer der beiden jüngsten Anlagen des Landes an EDF herangetreten und wollte dem französischen Staatskonzern die Kraftwerke schenken. EDF hat dankend abgelehnt. Dann versuchte der Eigentümer, sie dem Schweizer Staat für einen symbolischen Franken anzudienen. Anderswo, etwa in den USA und in Skandinavien, werden Atomkraftwerke dauerhaft stillgelegt, obwohl sie noch eine Betriebsgenehmigung für viele Jahre haben. Der Trend ist eindeutig: In der EU sind heute noch 127 Meiler am Netz, das sind 50 weniger als beim historischen Höchststand 1988. Seit der Jahrtausendwende haben in der Europäischen Union nur zwei Atomkraftwerke ihren Betrieb aufgenommen, eins in der Tschechischen Republik, und eins in Rumänien, nach 34 Jahren Bauzeit.

Gleichwohl gibt es weiterhin Länder, die ambitionierte Nuklear-Programme vorantreiben: China etwa oder Großbritannien. Vielleicht ist es doch zu früh für einen Abgesang auf die Atomkraft? China nimmt in Sachen Atomkraft eine Sonderstellung ein. Von den weltweit 20 Kraftwerks-Inbetriebnahmen der vergangenen zwei Jahre entfielen 13 auf China – alle vor Fukushima in Bau gegangen. Nur drei neue Baustellen wurden 2016 eröffnet, zwei in China, eine in Pakistan, und die von einer chinesischen Firma. Doch auch in China dominieren die Erneuerbaren: Das Land – wie Brasilien, Indien, Japan und die Niederlande – produziert allein mit Windkraft mehr Strom als mit Kernspaltung. Die Investitionen in neue Ökostrom-Kapazitäten im Land überstiegen 2015 mit über 100 Milliarden Dollar jene in neue Atomkraftwerke um das Vielfache.

Befürworter der Atom-Technologie verweisen darauf, dass die Meiler im Betrieb keine Treibhausgase ausstoßen – anders als beispielsweise Kohle- oder Gaskraftwerke. Überzeugt Sie das? Das Klimaschutz-Argument halte ich für wenig stichhaltig: Jeder Staat, jede Region oder Gemeinde steht vor der Frage, welche Menge an Treibhausgasen in welcher Zeit pro investiertem Euro, Dollar, Pfund oder Yuan vermieden werden kann. Fließt das Geld in Effizienz oder Erneuerbare, kann in kürzester Zeit sehr viel erreicht werden. Planung und Bau eines Atomkraftwerkes hingegen dauern viele Jahre.

Können Sie ein Beispiel nennen? Nehmen Sie das britische Projekt Hinkley Point C, das allein politisch motiviert ist und mit Milliardensummen subventioniert wird. Die Anlagen sollen 2019 in Bau gehen und frühestens 2026 Strom liefern. Das britische Parlament hat sich offiziell erstmals 2003 mit dem Projekt befasst. Es gibt also eine Vorlaufzeit von mindestens 23 Jahren. Und jetzt schauen Sie auf die Erneuerbaren: Allein 2015 ist die Ökostrom-Produktion in Großbritannien um 19 Milliarden Kilowattstunden oder knapp 30 Prozent gestiegen. Der Zuwachs an Ökostrom in einem einzigen Jahr entspricht damit bereits drei Vierteln der von Hinkley Point C frühestens ab 2026 erhofften Produktion. Wir sind mitten in einer Energie-Revolution.

In Deutschland soll der letzte Atommeiler bis Ende 2022 vom Netz gehen. Die Erneuerbaren sollen künftig das Rückgrat des Stromsystems bilden. Haben Sie den Eindruck, dass die Energiewende hierzulande mit der notwendigen Ernsthaftigkeit vorangetrieben wird? Für Deutschland sehe ich einen großen Nachholbedarf in zwei Bereichen. Der eine ist die Energieeffizienz. Hier geht es nicht nur um den Strom-, sondern vor allem um den Wärmemarkt. Wir brauchen nicht nur ambitionierte Effizienzstandards bei neuen Gebäuden und Industrieanlagen, sondern müssen viel stärker an den Bestand ran. Nur wenn wir den Energiebedarf insgesamt deutlich herunterschrauben, kann es gelingen, die Energieversorgung mittelfristig komplett auf Erneuerbare umzustellen. Das Augenmerk bei der Energiewende liegt immer noch zu sehr auf dem Stromsystem. Klimapolitisch ist aber die Wärme –und die Kälte in vielen anderen Ländern – ebenso entscheidend.

Und der andere Bereich? Wir brauchen international ein ganz anderes energiepolitisches Konzept. In dessen Mittelpunkt müssen die fundamentalen Energie-Dienstleistungen stehen. Und nicht mehr wie bisher die Produktion oder das Einsparen von Kilowattstunden oder Öl und Gas. Um es zugespitzt zu formulieren: Das Ersetzen der Edison-Glühbirnen durch LED-Leuchten ist noch keine moderne Energiepolitik.

Das müssen Sie erläutern! Im Grunde gibt es nur sechs grundlegende Kategorien von Energiedienstleistungen: gekochtes Essen, Licht, Wärme beziehungsweise Kälte, Mobilität, Kommunikation und Motorkraft. Die Energiepolitik muss auf die intelligente Bereitstellung dieser Dienstleistungen ausgerichtet werden. Das ist etwas grundlegend Anderes als die bisherige Debatte über Ökostrom, Kohle oder Atom. Ein wesentliches Prinzip dieses Ansatzes ist, dass zunächst alle passiven Möglichkeiten der Bereitstellung optimal ausgenutzt werden müssen.

Geht es ein wenig konkreter? Nehmen wir den Bereich Licht: Noch bevor Architekten oder Stadtplaner über Lampen und Beleuchtungssysteme nachdenken, sollten sie sicherstellen, dass Tageslicht in jedem Gebäude und in jeder Straße optimal genutzt wird. Man kann da etwa an den großflächigen Einsatz von Reflektoren oder Lichttunneln denken. Der Nutzen geht weit über das Einsparen von Strom hinaus. Tatsächlich wird das zum Nebeneffekt. Die eigentliche Wirkung besteht darin, dass die Lebensqualität der betroffenen Menschen deutlich steigt.

Wird das schon in der Praxis erprobt? Ja, an vielen Stellen sogar. Und die Auswirkungen sind sehr gut erforscht. Der amerikanische Flugzeugbauer Boeing etwa hat Fertigungshallen auf Tageslicht umgestellt, also neue Dächer auf die Gebäude montiert. Kunstlicht wird in den Fabriken nur noch unterstützend eingesetzt. Aufgrund der Energie-Einsparungen amortisieren sich die Investitionen binnen vier Jahren. Doch greift diese Betrachtung viel zu kurz.

Warum? Die Beschäftigten sehen plötzlich besser, sie fühlen sich besser, die Zahl der Krankmeldungen sinkt um 15 Prozent, die Produktivität steigt um 15 Prozent. Gemessen daran ist der Energieeinspar-Effekt ökonomisch ein Witz, obwohl die Zahl der verbrauchten Kilowattstunden stark zurückgeht. Tatsächlich hat sich die Investition nicht in vier Jahren amortisiert, sondern in weniger als einem Jahr. Vergleichbare Ansätze kann man in Büros oder etwa in Schulen verfolgen: Studien zeigen deutlich, dass Kinder im Tageslicht-Klassenzimmer viel konzentrierter, messbar besser und mehr lernen als Kinder, die im Kunstlicht pauken.

Beim Licht klingt das plausibel, bei der Wärme dürften vergleichbare Strategien möglich sein ... ... und bei Kälte: ein weiß gestrichenes Dach, ein „cool roof“, absorbiert im Sommer weniger Wärme, erhöht das Wohlbefinden, spart in heißeren Regionen zehn Prozent an Kühlenergie oder kann die Klimaanlage schlicht überflüssig machen.

Aber wie revolutioniert man den Verkehr? Auch hier geht es um die Qualität der Dienstleistung: Wir wissen genau, welche Entfernungen Menschen zu Fuß zurücklegen und wann sie aufs Fahrrad umsteigen. Aufgabe der Politik wäre es, entsprechende Programme zu forcieren und die notwendige Infrastruktur bereitzustellen. Auch das Auto kann durchaus Teil dieses Ansatzes sein. Gegenwärtig wird viel über Elektromobilität diskutiert. Gemeint ist aber nur, herkömmliche Autos mit Elektromotoren auszustatten. Man muss das Auto neu erfinden und Mobilitätsdienstleistungen zum Durchbruch verhelfen, die tatsächliche Bedürfnisse der Menschen befriedigen.

Aber hat nicht jeder Mensch andere Bedürfnisse? Neunzig Prozent der Autofahrten in den Städten sind kürzer als fünf Kilometer. Schwere Wagen mit einer Reichweite von mehreren hundert Kilometern sind in den meisten Fällen schlicht überflüssig. Und man muss die Autos nicht besitzen, sondern nur Zugriff darauf haben, wenn man sie tatsächlich braucht. Die Carsharing-Anbieter haben das bereits erkannt, aber sie operieren noch in der Nische. Auch bei intelligenten Verkehrsdienstleistungen wären Ziel und wesentlicher Effekt mehr Lebensqualität für die Menschen – und ganz nebenbei würden riesige Mengen Energie – und Emissionen – eingespart.

Interview: Thorsten Knuf

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