Klimaschutz auch ohne Atomenergie
Frankfurter Rundschau, 2. November 2016
Von Thorsten Knuf
Atomkraftwerke sind selbst in Frankreich und Großbritannien auf längere Sicht entbehrlich, heißt es in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Die Europäische Union kann ihre Klimaschutz-Ziele nach Einschätzung führender Wissenschaftler auch ohne Atomenergie erreichen. Selbst in Ländern wie Frankreich und Großbritannien, die weiterhin im großen Stil auf die umstrittene Technologie setzen, sei diese auf längere Sicht entbehrlich, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Die Atomkraft sei überdies die mit Abstand teuerste Art, Strom zu erzeugen. „Die Atomkraft ist eine Technologie der Vergangenheit, die ohne Subventionen nicht wettbewerbsfähig war und es auch niemals sein wird – selbst dann nicht, wenn man die Umweltrisiken und die Entsorgung des Atommülls außen vor lässt“, sagte DIW-Energieexpertin Claudia Kemfert.
Die Berliner Wissenschaftler melden sich kurz vor Beginn der nächsten UN-Klimakonferenz zu Wort. Diese beginnt am kommenden Montag in Marrakesch (Marokko). Dort soll eine erste Bestandaufnahme des Pariser Weltklima-Vertrags von 2015 vorgenommen werden. Befürworter der Atomkraft argumentieren immer wieder, dass der Einsatz dieser Technologie im großen Stil dazu beitragen kann, die Stromversorgung der Menschheit zu sichern und gleichzeitig den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren. Die EU will ihren Treibhausgas-Ausstoß bis 2030 um 40 Prozent und bis 2050 um bis zu 95 Prozent unter das Niveau von 1990 drücken.
Die DIW-Experten schauten sich für ihre Untersuchung das jüngste Referenzszenario der Europäischen Kommission an und überprüften es anhand eigener Daten auf Plausibilität. Brüssel geht davon aus, dass der Atom-anteil am Strommix hoch bleibt und von 2030 bis 2050 sogar neue Reaktoren hinzu gebaut werden. Die Forscher hingegen unterstellten einen spezifischen Kohlendioxid-Minderungspfad für den Stromsektor und ermittelten bis 2050 die kostengünstigste Entwicklung des europäischen Kraftwerksparks sowie den optimalen Kraftwerkseinsatz für jedes Land.
„Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Kraftwerksportfolio von fossiler hauptsächlich zu erneuerbarer Stromerzeugung wandelt“, schreibt das DIW. Und weiter: „Investitionen in Atomkraftwerke finden keine statt, sodass deren Stromproduktion bis 2050 stark zurückgeht. Nach 2030 wird der Großteil des Stroms aus Windkraftanlagen erzeugt, gefolgt von Photovoltaik.“ Ab 2030 würden Speicher im Stromsystem an Bedeutung gewinnen. Im Jahr 2050 könnte mit ihrer Hilfe fast ein Zehntel des erzeugten Stroms zwischengespeichert werden, um Schwankungen im Stromsystem auszugleichen.
Bereits jetzt ist die Atombranche in Europa unter erheblichem Druck, ihre Bedeutung für die Stromerzeugung sinkt. Große Atomkonzerne wie EDF (Frankreich) oder RWE (Deutschland) gelten als Sanierungsfälle. In der gesamten EU sind noch 127 Atomreaktoren am Netz – 50 weniger als beim Höchststand 1988. Das durchschnittliche Alter der Anlagen liegt bei mehr als 30 Jahren. Seit der Jahrtausendwende sind in der EU lediglich zwei Reaktoren neu ans Netz gegangen, wie aus der neuesten Ausgabe des renommierten „World Nuclear Industry Status Report“ hervorgeht.
Der Herausgeber der Publikation, der Atom-Experte und Berater Mycle Schneider, sagte am Mittwoch, dass es eigentlich nur noch in China einen substanziellen Ausbau des Reaktorparks gebe. Von den weltweit zehn Inbetriebnahmen des vergangenen Jahres seien acht auf China entfallen. Weltweit gebe es eine „strukturelle Veränderung der Strommärkte“, hin zu mehr Erneuerbaren und mehr Energieeffizienz.