22 August 2022

Der Tagesspiegel (Germany)

Explosive Lage

Die ukrainische Atomenergiebehörde Energoatom hat eine alarmierende Botschaft erhalten. Sie sei von dem russischen Generalmajor Waleri Wassiljew informiert worden, heißt es in einer Mitteilung aus Kiew, dass wichtige Anlagen des Atomkraftwerkes Saporischschja vermint seien. Wassiljew ist der russische Kommandeur in dem besetzten Werk. Er schrieb: „Der Feind weiß, dieses Kraftwerk ist entweder russisch oder es ist gar nicht.“ Unverholen droht der General damit, das Kernkraftwerk bei einer ukrainischen Offensive in die Luft zu jagen.
Source : Der Tagesspiegel: Vergleiche mit Tschernobyl und Fukushima • Welche Folgen ein Unfall im Atomkraftwerk Saporischschja haben könnte https://plus.tagesspiegel.de/politik/vergleiche-mit-tschernobyl-und-fukushima-welche-folgen-ein-unfall-im-atomkraftwerk-saporischschj

Von Matthias Jauch am 9. August 2022

Berlin - Die ukrainische Atomenergiebehörde Energoatom hat eine alarmierende Botschaft erhalten. Sie sei von dem russischen Generalmajor Waleri Wassiljew informiert worden, heißt es in einer Mitteilung aus Kiew, dass wichtige Anlagen des Atomkraftwerkes Saporischschja vermint seien. Wassiljew ist der russische Kommandeur in dem besetzten Werk. Er schrieb: „Der Feind weiß, dieses Kraftwerk ist entweder russisch oder es ist gar nicht.“ Unverholen droht der General damit, das Kernkraftwerk bei einer ukrainischen Offensive in die Luft zu jagen.

Am Ufer des Dnjepr in Saporischschja reihen sich sechs gewaltige Kernreaktoren. Das Kraftwerk, eines von vieren in der Ukraine, ist mit einer Leistung von 6000 Megawatt das größte in Europa. Es wird mit Druckwasserreaktoren betrieben, erbaut bereits in den 1980er Jahren mit sowjetischer Technik. Viele Kraftwerke in Europa operieren bereits länger.

Die Ukraine informierte die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) nach den letzten Kampfhandlungen in Saporischschja, es sei keine Radioaktivität ausgetreten. Die Reaktoren seien unbeschädigt. Der Beschuss in den letzten Tagen beschädigte das externe Stromversorgungssystem der Anlage, zwei Stromleitungen blieben aber in Betrieb, sagte IAEO-Generaldirektor Rafael Grossi am Samstag.

In Fall Saporischschja wurden bislang mehrere Gefahrenszenarien diskutiert. Zum einen könnte im Zuge von Kampfhandlungen die Stromversorgung unterbrochen werden. Die Folge wäre ein Ausfall der Pumpen, die die Brennelemente permanent herunterkühlen. So sieht es Mycle Schneider, Herausgeber des jährlichen World Nuclear Industry Status Report. Zwar gebe es Diesel-Generatoren als Backup, doch stelle sich die Frage, wie lange die laufen könnten. Er sagt auch, ein Ausfall könnte innerhalb von Stunden zur Katastrophe führen.

Auch von abgeschalteten Reaktoren, wie jenen in Saporischschja, geht Gefahr aus. „Die Brennelemente in den Abklingbecken benötigen ebenfalls Kühlung“, sagt Schneider. Dazu lagere hier erheblich mehr Brennstoff als im Reaktorkern. Fällt die Kühlung aus, erwärmt sich das Wasser, fängt im Laufe der Zeit an zu kochen und legt die Brennelemente frei. Hier geht es um Tage. „Es droht ein Brennelemente-Feuer, das erheblich gravierender wäre als eine Kernschmelze im Reaktor, weil sich hier mehr Brennstoff befindet“ erklärt Schneider.

So bestanden auch in Fukushima die größten Probleme nicht in den noch aktiven Reaktoren selbst sondern in einem der Abklingbecken im stillgelegten Reaktor. Dort war es schwierig, Kühlwasser hinzubekommen. Das zweite Szenario: Im Zuge von Kampfhandlungen kommt es zu direkten Treffern des Reaktorgebäudes oder anderer Bereiche, die für die Sicherheit des AKW maßgeblich sind.

Zwar würde durch einen Treffer der äußeren Betonhülle nicht automatisch Radioaktivität austreten. Doch gefährlich wird es dennoch: Ein Treffer der Dampfleitungen etwa hätte gravierende Folgen. Dies hätte einen Druckverlust zur Folge. Hitze könnte dann nicht mehr aus dem Reaktor nicht mehr abgeführt werden. Diese führt zur Turbine, über die Strom erzeugt wird. Für Schneider ist es ein verschlimmertes Three-Mile-Island-Szenario. Bei dem AKW in den USA kam es 1979 zur Kernschmelze, hervorgerufen von einem offenen Überdruckventil in einer Dampfleitung, das sich nicht schließen ließ.

Schneider zieht auch einen Vergleich zwischen einem möglichen Atomunfall und bereits erfolgten Havarien. „Es wird bei Tschernobyl und Fukushima immer vom Super-GAU gesprochen. Dabei trifft das gar nicht zu. Hier waren ‚lediglich’ die Reaktoren betroffen“, sagt Schneider. „Ein Brennelemente-Feuer wäre weitaus schlimmer. Je nach Wetterbedingung und Bevölkerungsdichte könnten mehrere Millionen Menschen von Evakuierungen betroffen sein“.

Fernab der Reaktoren droht aber auch Gefahr: Ein Treffer des Trockenlagers. Vor fünf Jahren sollen dort noch mehr als 1300 Tonnen Material gelagert gewesen sein, sagt Schneider. Den bisherigen Szenarien hat der russische General nun ein weiteres hinzugefügt: Die bewusste Zerstörung des Kraftwerkes. „Wir sind bereit, die Folgen zu tragen“, zitiert die ukrainische Behörde die Mitteilung des russischen Militärs.

(Mehr)