Atomenergie-Experten: Wirtschaftliche Krise bedroht Sicherheit der Reaktoren
Von: Nicole Sagener | EurActiv.de
16. März 2016 (aktualisiert: 17. März 2016)
Die schlechte wirtschaftliche Lage von Atomkraftwerksbetreibern könnte die Sicherheit der von Reaktoren gefährden, warnt der „World Nuclear Industry Status Report“. Auch der Neubau von Reaktoren sei mittlerweile enorm unrentabel.
Der Mitherausgeber des „The World Nuclear Industry Status Report„, Mycle Schneider, hat vor unkontrollierbaren Risiken durch den Niedergang der Atomkraft gewarnt. Zwar wurden 2015 so viele Atomkraftwerke in Betrieb genommen wie seit 1990 nicht mehr. Dennoch leide die Branche unter einer ernsten Krise.
Das Motto „Teuer bauen, billig betreiben“ gelte für Atomkraftwerke nicht mehr, sagte Schneider am Mittwoch im Umweltausschuss des Bundestages. Dies zeigten die rasant sinkenden Börsenwerten der französischen Konzerne Électricité de France und Areva. Areva sei „technisch bankrott“, sagte Schneider. Bei dem staatlich kontrollierten Atomkonzern sollen bis 2017 bis zu 6000 Stellen wegfallen.
Betriebskosten für AKWs steigen
Insgesamt sind laut der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) weltweit 442 Atomkraftwerke in Betrieb. Da ihr Durchschnittsalter bei 30 Jahren liegt, steigen die Betriebskosten. So konstatierte etwa der französische Rechnungshof, dass die Produktionskosten für Atomstrom allein von 2010 bis 2013 um 20 Prozent gestiegen sind.
„Ich befürchte, dass Laufzeitverlängerungen und Stelleneinsparungen wegen der wirtschaftlich verschlechterten Bedingungen für Betreiber die technische und militärische Sicherheit ernsthaft gefährden könnten, warnte Schneider.
Ähnlich sehen das auch die Grünen im EU-Parlament. Sie kritisieren, der neue Berichtsentwurf der EU-Kommission zur Lage des europäischen Atomsektors spiegele den Energiemarkt nicht wider. Rebecca Harms, Vorsitzende der Grünen im EU-Parlament, beklagte, die Kosten der Atomkraft würden untertrieben und mögliche Unfälle kaum thematisiert. Die Sicherheitsfragen, die 2008 im bislang letzten „Hinweisenden Nuklearprogramm“ der Kommission noch eine große Rolle gespielt hätten, würden im neuen Entwurf für das „Hinweisende Nuklearprogramm“ PINC 2016 nicht mehr diskutiert.
Zudem, so Harms, setze die Kommission etwa für die Sanierung von Atomkraftwerken, deren Laufzeit um 20 Jahre verlängert werden soll, zu niedrige Kosten an. „Die Zahl ist zweimal niedriger als das Geld, das der französische Rechnungshof allein für die notwendigen Upgrades der französischen Akw berechnet“, sagte Harms.
Bedeutung der Atomkraft im weltweiten Strommix sinkt
Stattdessen plädieren die Grünen für eine Stärkung der Erneuerbaren Energien – die, so Timur Gül von der Internationalen Energieagentur (IEA), weltweit an Bedeutung zunehme. Seit Jahren sinkt die Relevanz der Atomkraft im weltweiten Strommix in der kommerziellen Stromproduktion. Während Mitte der 1990er-Jahre der Anteil bei 17,5 Prozent lag, beträgt er heute elf Prozent und in der kommerziellen Primärenergie nur 4,5 Prozent.
Den globalen „Abstieg“ der Atomenergie hat Schneider zufoge die Reaktorkatastrophe im japanischen AKW Fukushima 2011 weiter „dramatisch beschleunigt“. Aktuell hat sich der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Stromerzeugung auf knapp unter elf Prozent stabilisiert. 1996 waren es noch 17,5 Prozent. Zurzeit wird in 31 Ländern Energie aus Atomkraft gewonnen – wobei acht von zehn neu angekoppelten Kraftwerken in China entstanden seien. Knapp 400 Reaktoren seien derzeit in Betrieb, 2002 seien es noch 438 gewesen, so Schneider.
Mit Blick auf klimapolitische Ziele nach der Klimakonferenz in Paris beurteilte Timur Gül von der International Energy Agency (IEA), ein weiterer Ausbau der Erneuerbaren Energien sei ein wesentlicher Bestandteil für das auf der COP21 beschlossene 2-Grad-Ziel. Halte die aktuelle Entwicklung an, müsse man von einer Erwärmung von 2,7 Grad bis 2100 ausgehen, mahnte er. „Die Regierungen müssen aus Subventionen auf fossile Brennstoffe aussteigen“, forderte Gül.
Dreiviertel des Stroms kommt heute aus Wasserkraft
Immerhin war die Hälfte der globalen Energie, die 2015 ans Netz ging, bereits erneuerbar. Die IEA erwarte, dass in den 2030er Jahren die Erneuerbaren die Kohle zur Stromerzeugung ablösen werden. so Gül. Neben den „traditionellen“ Erneuerbaren Energien – dreiviertel des Stroms komme heute aus Wasserkraft- erwarte man mehr Strom aus Windenergien, gefolgt von Solarstrom. „In diesem Jahr gab es signifikante Kostenreduktionen für Windenergie an Land und für Photovoltaik“, sagte Gül. Die Wettbewerbsfähigkeit verbessere sich schnell.
Während Schneider für die EU einen „organischen Atomausstieg“ prognostiziert, reagiert Gül vorsichtiger auf die Frage, ob das 2-Grad-Ziel in den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten ohne Beitrag von Kernenergie möglich wäre. „Vieles ist möglich, aber es ist nicht unbedingt leichter“, sagte er.