Atomkraft: Die EU bremst das Ende aus
Von: Nicole Sagener | EurActiv.de 3 nov. 2016 (aktualisiert: 4 nov. 2016)
Die Atomenergie wächst weltweit deutlich geringer als die Erneuerbaren Energien, zeigt der World Nuclear Industry Status Report. Doch trotz Risiken und steigenden Kosten ist kein Ende des Atomzeitalters in Sicht – auch nicht in der EU.
Die Welt erlebe eine Renaissance der Atomenergie, so geisterte es in den vergangenen Jahren immer wieder durch Medien und Politik. Doch diese Behauptung offenbart sich nun als Mythos. Was sich zurecht sagen lässt, ist nur: China und der Rest der Welt. Denn mittlerweile ist China das einzige Land, das noch in großem Maß in Atomkraft investiert. Das zeigt der neue World Nuclear Industry Status Report.
Weltweit wächst die Kernenergie inzwischen wesentlich weniger, so Energieexperte Mycle Schneider, der die Ergebnisse des Berichts in Berlin vorstellte. Seine Recherchen zeigen, dass zum dritten Jahr infolge global die Zahl der Reaktor-Neubauten zurückgegangen ist – von 67 im Jahr 2013 auf 58 bis Mitte 2016. Insgesamt sind damit zurzeit noch 402 Reaktoren weltweit in Betrieb.
„Die Atomenergie hat mittlerweile knallharte Konkurrenz, vor allem durch die Erneuerbaren Energien„, sagt Schneider gegenüber EurActiv.de. Das gilt selbst im nach wie vor Kernenergie-affinen China. Von den zehn Reaktoren-Neustarts im Jahr 2015 fielen acht auf China, ein weiterer auf Russland und einer auf Südkorea. Und auch von den acht im Jahr 2015 startenden AKW-Neubauten lagen sechs in chinesischer Hand. Inzwischen liegt die Marktmacht aus Asien damit in der Produktion von Atomstrom an vierter Stelle.
Dennoch ist auch dort ein tiefgreifender „Fukushima-Effekt“ zu beobachten, so Schneider, der unter anderem die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) und die EU-Kommission beraten hat. Auch in China wurden die Investitionen in Erneuerbare Energien enorm gesteigert – von 54 Milliarden US-Dollar im Jahr 2013 auf 103 Milliarden im Jahr 2015. Zum Vergleich: Die USA, die noch immer knapp 20 ihres Stroms aus Atomkraft beziehen, stiegen die Ausgaben im gleichen Zeitraum von etwa 34 auf 44 Milliarden Dollar, in Großbritannien von zwölf auf 22 Milliarden Dollar.
DEUTSCHLAND: NOCH LANGE NICHT VON KERNKRAFT VERABSCHIEDET
Für Europa gilt allerdings: Trotz der Entwicklung hin zur sauberen Energieerzeugung bremst des Kontinent die Trendwende selbst aus. Nicht nur setzen unter anderen Frankreich und Großbritannien noch immer im großen Stil auf die umstrittene Atom-Technologie, wie die Debatten um Hinkley Point C zeigen.
Auch in Deutschland, das sich fünf Jahre nach dem Beschluss zum Atomausstieg als besonderer Vorreiter gibt, könne von einem echten Abschied von der Kernkraft keine Rede sein, sagt Wirtschafts- und Infrastrukturexperte Christian von Hirschhausen gegenüber EurActiv.de. Obwohl das letzte deutsche Atomkraftwerk 2022 vom Netz gehen soll – aktuell sind noch acht in Betrieb – ist Deutschland, so der Forscher der Technischen Universität Berlin und des DIW, im Bereich Atomforschung so aktiv wie noch nie.
„Deutschlands Atomforschung war einmal weltweit führend“, so von Hirschhausen. Und natürlich seien Atomforschung und Kernphysik auch weiter von wichtigem wissenschaftlichem Belang, „aber aus ökonomischer Sicht sind Fusionsreaktoren sinnlos, verschwendetes Geld.“
Das hänge auch mit den Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke zusammen. Mängel aufzuspüren sei Sisyphosarbeit für die Sicherheitsagenturen, wie man an den belgischen Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 sehen könne, sagt von Hirschhausen. Im deutschen Aachen, das 60 Kilometer Luftlinievvon Tihange entfernt ist, teilten sie schon Iodtabletten aus, sagt er mit bitterem Lachen.
BRÜSSEL WILL INVESTITIONEN IN DIE ATOMENERGIE FORCIEREN
Dabei gäbe es Druckmittel für Deutschland, meint von Hirschhausen. „Die Bundesrepublik könnte morgen unter anderem aus der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA und der Europäischen Atomgemeinschaft Euratom aussteigen.“ Doch obwohl rund die Hälfte der EU-Staaten keine Atomkraftwerke betreiben oder sich den Atomausstieg auf die Fahnen geschrieben haben, besteht der Euratom-Vertrag weiter. Daran will die Bundesregierung bislang ebenso wenig rütteln, wie die EU-Kommission.
Brüssel will Investitionen in die Atomenergie sogar stärken und die Entwicklung kleinerer, flexibler Reaktoren in der EU forcieren. Im Entwurf für ein Strategiepapier der Kommission vom Mai heißt es, in der EU solle die „technologische Vorherrschaft im Nuklearsektor“ verteidigt werden. Gelder sollen unter anderem aus dem Europäischen Fonds für strategische Investments (EFSI) und den Forschungsprogrammen der EU fließen – wobei einige dieser Förderprogramme auch über die Europäische Investitionsbank (EIB) abgewickelt werden sollen.
Obwohl Umweltministerin Barbara Hendricks und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel die Kommissionspläne als unverantwortliche abstraften, würde Deutschland im Falle einer Umsetzung direkt involviert. Denn über die EIB bestimmt das deutsche Finanzministerium mit.
Wenige Wochen vor der nächsten UN-Klimakonferenz, die am kommenden Montag in Marrakesch beginnt, hatte die Kommission zudem ein neues Referenzszenario zu den Entwicklungen im Energie- und Transportsektor sowie bei den Treibhausgasemissionen auf EU-Ebene vorgelegt. Darin geht Brüssel davon aus, dass der Atomanteil am Strommix hoch bleibt und von 2030 bis 2050 sogar neue Reaktoren gebaut werden. Eine alternativen Weg sieht die Kommission offenbar nicht.
Energieexperte Mycle Schneider sieht diese Entwicklung kritisch, denn neben der Frage nach Rückbau und Endlagerung bleibe die der Sicherheit drängend: Auch Länder wie Frankreich hätten Schneider zufolge keine andere Wahl, als die Anzahl der Reaktoren dramatisch zurückzufahren. „Andernfalls könnte die Alterung der Reaktoren und die schon jetzt immer wieder zu beobachtenden Mängel in den Sicherheitskontrollen zu einem Desaster führen“, warnt er.
Das liegt auch daran, dass die immer älter werdenden Reaktoren zum immer größeren Kostenfaktor für die Betreiber werden. Das Durchschnittsalter aller 127 Atomreaktoren, die in der EU noch am Netz sind, liegt bei mehr als 30 Jahren. Die größten Atomkonzerne wie EDF (Frankreich) oder RWE (Deutschland) gelten als Sanierungsfälle. Darunter leiden auch die Sicherheitskontrollen.