Mycle Schneider, 13 December 2018

Energie & Umwelt (Switzerland)

Bau und Weiterbetrieb von unwirtschaftlichen AKW in der Welt – warum bloss?

Der «World Nuclear Industry Status Report» dokumentiert seit über zehn Jahren den weltweiten Niedergang der Atomindustrie. Neubau und Weiterbetrieb von alternden AKW werden teurer, Erneuerbare dagegen immer billiger. Trotzdem halten vor allem Atomwaffenstaaten an der Technologie fest. Warum?
Source : Bau und Weiterbetrieb von unwirtschaftlichen AKW in der Welt – warum bloss? https://www.energiestiftung.ch/id-2018-4-bau-und-weiterbetrieb-von-unwirtschaftlichen-akw-in-der-welt-warum-bloss.html

Energie & Umwelt, Dezember 2018

Von Mycle Schneider* Energie- und Atompolitikberater

Die Atomtechnologie hat sehr lange Vorlaufzeiten. Jahrelange Forschung und Entwicklung, typen- und standortspezifische Genehmigungsverfahren, Standortvorbereitungen, Bauarbeiten für Demonstrationsprojekte, dann «First-of-a-kind»-Anlagen (FOAK) und schliesslich die Serienproduktion. Da vergehen schon mal ein paar Jahrzehnte.

Der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) wurde als Antwort auf die Tschernobylkatastrophe entwickelt. Der Reaktor in der Ukraine havarierte 1986, der erste EPR – und bisher weltweit einzige – ging im Juni 2018 ... in China ans Netz. Jeweils ein weiterer EPR ist in China, Finnland und Frankreich in Bau. Von einer Serienfertigung kann keine Rede sein.

China dominiert die Atomstatistik

Der EPR im chinesischen Taishan war eine von global neun Betriebsaufnahmen in den ersten zehn Monaten des Jahres 2018 – darunter sieben in China. Das asiatische Land dominiert seit einem Jahrzehnt die nuklearen Statistiken. Drei der vier Reaktoren, die 2017 ans Netz gingen, stehen in China, der vierte in Pakistan, von chinesischen Firmen gebaut.

Doch auch bei Chinas Entscheidungsträgern haben sich Zweifel eingeschlichen. Seit Dezember 2016 ging kein kommerzieller Reaktor mehr in Bau. Windenergie alleine erzeugt weiterhin mehr Strom als Atomkraft. China hat 2017 geschätzte 126 Milliarden Dollar in den Ausbau der Erneuerbaren investiert. Die Solarstromproduktion wuchs um spektakuläre 56 Milliarden kWh (+74 %), weit mehr als der Zuwachs um 35 Milliarden kWh (+18 %) beim Atomstrom, welcher der gesamten Stromerzeugung der indischen Atomkraftwerke entspricht. Indien erzeugt übrigens auch allein mit Windrädern mehr Strom als mit der Kernspaltung.

Blütezeit der Atomindustrie ist lange vorbei

Fast alle Indikatoren haben das historische Maximum überschritten. Die Atomstromproduktion erreichte ihr absolutes Maximum 2006, die Anzahl der betriebenen Reaktoren 2002, der Anteil der Atomkraft an der kommerziellen Weltstromproduktion 1996, die Anzahl der in Bau befindlichen Anlagen 1979, der Baustarts 1976.

Ein Reaktor in Bau ist darüber hinaus nicht gleichbedeutend mit zukünftiger Stromproduktion. Jede achte Baustelle wurde in verschiedenen Stadien auf gegeben, von 1 % –100 %. Die letzte 5 Milliarden Dollar teure Bauruine steht am Standort V.C. Summers in South Carolina, USA. Dort wurden im Sommer 2017 zwei von nur vier sich in Bau befi ndlichen Reaktoren vom Typ Westinghouse AP1000 aufgegeben. Freilich, der historisch bedeutendste Atomkraftwerksbauer Westinghouse hatte kurz zuvor Bankrott angemeldet.

In den USA, wie auch in anderen Ländern, kämpfen nicht nur Neubauprojekte ums Überleben, selbst die amortisierten AKW-Oldtimer können sich kaum am Markt halten. Für den Zeitraum von 2009 bis 2025 wurden 18 Reaktoren für die Abschaltung angemeldet, sechs wurden bereits defi nitiv vom Netz genommen. Vier dieser sechs stillgelegten Reaktoren hatten die bereits notwendigen Investitionen getätigt und eine 20-jährige Laufzeitverlängerung genehmigt bekommen. Nun kämpfen die Lobbyisten auf einzelstaatlicher Ebene um das Überleben von erwiesenermassen unwirtschaftlichen Meilern. Mit einer Zero-Emission-Credit (ZEC) genannten Subvention haben sie das Überleben von acht Reaktoren für ein paar Jahre gesichert.

Hilfe für die Atomindustrie

Abhilfe soll eine weitere verblüffende Idee schaffen: Während die zivile Atomindustrie seit Jahrzehnten beschwört, es gäbe keine Verbindung zur militärischen Nutzung – sprich der Atombombe – heisst es nun plötzlich, etwa bei der nationalen U.S.-Lobbyorganisation «Nuclear Energy Institute», dass die Aufgabe der Atomkraftnutzung «die Entwicklung des atomaren Verteidigungskomplexes der Nation verhindern» würde.1

Ein Bericht des früheren U.S.-Energieministers Ernest Moniz führt aus, eine starke nationale Lieferkette sei unabdingbar für die Atomfl otte der Marine. «Und diese Lieferkette hat eine inhärente und sehr starke Überlappung mit der kommerziellen Atomkraft.»2 Für den Ex-Kommissar der U.S.-«Nuclear Regulatory Commission», Victor Gilinsky, und den Chef des «Non-Proliferation Education Centers», Henry Sokolski, ist dies «eine Behauptung zu viel»: «Jetzt – in einem verzweifelten Versuch, nicht länger wettbewerbsfähige Kernkraftwerke vor dem Abschalten zu bewahren – behauptet die Atomindustrie plötzlich, es habe immer eine Verbindung gegeben und die Stromkunden sollten einen Aufschlag bezahlen, um sie am Laufen zu halten.»3

Zivil-militärische Atomallianz und andere Treiber

Kurioserweise führt diese unerwartete zivil-militärische Allianz auch in anderen Ländern zu einem neuen Treiber für Neubau oder Laufzeitverlängerungen. In einem Bericht des britischen Rechnungshofs heisst es etwa, eine Grundannahme der Erneuerung der nuklearen Waffenarsenale sei, dass die Kosten für die Unterstützung der U-Boot-Industrie «nicht direkt unter das zukünftige Abschreckungsprogramm fallen».4 Ein Bericht des britischen Verteidigungsministeriums fordert gar, dass «das Programm einfallsreiche Methoden entwickelt, um sich, zum Gewinn des Militärs, besser an den nuklearen Bereichen des aufkommenden zivilen Neubauprogramms zu beteiligen».5

Ähnliche Äusserungen lassen auch Politiker, Industrie und Militärs in anderen Ländern verlauten, etwa in Brasilien und Japan. Studien über Budgets und Zahlen in Forschungs- und Ausbildungsprogrammen ziviler und militärischer Einrichtungen werden unter Verschluss gehalten. Deshalb bleibt auch unklar, ob es für diese zivil-militärischen Abhängigkeiten überhaupt solide Grundlagen gibt. Fest steht jedenfalls, dass das Argument «nationale Sicherheit» neuerdings argumentativ für die Rettung der unwirtschaftlichen Atomkraftbranche mobilisiert wird.

Und die wahren Motive und Gründe?

Natürlich gibt es auch andere Treiber, die bei der politischen Entscheidungsfindung über Laufzeitverlängerungen und Neubau unwirtschaftlicher AKW eine Rolle spielen. Geopolitische Überlegungen spielen zweifellos eine Rolle mit bei den chinesischen Investitionen in Grossbritannien oder den Angeboten russischer Firmen rund um den Globus. Militärische Hintergedanken für Nicht-Atomwaffenstaaten gehören nicht nur zur Geschichte, sondern sind zweifellos auch heute aktuell, ob in Japan, Saudi-Arabien oder der Türkei.

Das Image der Atomforschung als Spitzentechnologie, als Gral eines Klubs von Eliteländern, hat auch in Ländern wie Iran und Indien erhebliches Gewicht. Und schliesslich spielt in vielen Ländern, darunter Brasilien und Südafrika, Korruption eine erschreckend grosse Rolle, gerade bei Neubauprojekten mit ihren milliardenschweren Auftragsbüchern.

Die Diskussion um die Frage, warum unwirtschaftliche Atomanlagen weiterbetrieben oder neu gebaut werden, hat bisher überhaupt nicht stattgefunden. Wenn es nicht energie- oder umweltpolitische und wirtschaftliche Beweggründe sind, die zu diesen Entscheidungen führen, dann ist es an der Zeit, über die «wahren» Motive zu diskutieren.

Quellen

1. Amy Harder, «Nuclear scramble on tax credits», Axios News Service, 16 June 2017. 2. Energy Futures Initiative, «The US Nuclear Energy Enterprise: A Key National Security Enabler», 2017. 3. Victor Gilinsky, Henry Sokolski, «The Threat of Nuclear Power Plant Closures», The National Interest, 8 August 2018. 4. Tim Burr, «The United Kingdom’s Future Nuclear Deterrent Capability», Comptroler and Auditor General, NAO, Ministry of Defence, 5 November 2008. 5. Robin Grimes et al, «Royal Navy Nuclear Reactor Test Facility Review», Ministry of Defence, 28 October 2014.

*Der Autor Der Energie- und Atompolitikberater Mycle Schneider ist Projektleiter und Herausgeber des «World Nuclear Industry Status Report» (Bericht zur Atomenergie in der Welt), der jedes Jahr mit der Unterstützung u.a. der SES erscheint.

Der Status Report 2018 und weitere Informationen unter: www.worldnuclearreport.org