Von Georg Blume, Paris – Freitag, 03.01.2020 19:19 Uhr
Es war in den letzten Jahren ruhig geworden um Frankreichs einst so heftig kritisierte wie gepriesene Atomindustrie. Es schien, als würde sich die einst weltweit beachtete Vorzeigebranche mit der Zeit von selbst erledigen - durch defizitäre Großkonzerne, eingrenzende Gesetze und die Konkurrenz der erneuerbaren Energien. Die wenigen neuen Bauvorhaben, die es gab, liefen finanziell und bauzeitlich aus dem Ruder.
Durch den Niedergang der französischen Atomalternative schien sich Deutschlands Energiewende trotz aller Kohlealtlasten zu bestätigen. Doch nun das: „Die Atomfrage ist dabei, eine immer tiefere Kluft zwischen Frankreich und Deutschland und innerhalb Europas zu reißen“, warnte Jens Althoff, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Paris. Anlass war die Veröffentlichung eines Jahresberichts über den Zustand der weltweiten Atomindustrie (WNISR, World Nuclear Industry Status Report 2019) Ende Dezember in der französischen Hauptstadt.
Hintergrund für den Weckruf Althoffs sind neue, öffentlich bislang kaum diskutierte Pläne der französischen Regierung für den Bau neuer Atomkraftwerke.
Schon im September wandten sich der französische Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und seine Kollegin Élisabeth Borne, die französische Umweltministerin, in einem internen, in die Medien durchgesickerten Brief an den Chef des französischen Elektrizitätskonzerns EDF, Jean-Bernard Lévy. Die Minister forderten Lévy auf, alle Vorkehrungen zu treffen, damit EDF in der Lage ist, ab 2021 sechs neue Atomkraftwerke in Frankreich in Betrieb zu nehmen. EDF befindet sich mit über 80 Prozent seiner Aktien im Staatsbesitz und ist Betreiber aller 58 derzeit einsatzfähigen Atomreaktoren Frankreichs, die größtenteils vor dem Ende ihrer 40-jährigen Betriebszeit stehen. Der Brief der Minister kam einem Befehl gleich. Und die Botschaft lautete: Frankreich setzt weiter und wieder auf Atomkraft.
Dabei sprachen zuvor alle Anzeichen dagegen. Erst 2015 verabschiedete die Pariser Nationalversammlung ein neues Energiegesetz, das den Anteil der Atomenergie am Stromverbrauch der Franzosen von bislang über 70 Prozent bis 2025 auf 50 Prozent zu reduzieren versprach. Unter Präsident Emmanuel Macron verlängerte das Parlament die Übergangszeit bis 2035, weil EDF damit rechnet, Reaktoren 10 bis 20 Jahre länger als ihre geplante Laufzeit betreiben zu können. Zugleich war dem Neubau von Reaktoren ein Riegel vorgeschoben. Der Grund: Der schon Ende der Neunzigerjahre als deutsch-französisches Projekt geplante sogenannte Europäische Druckwasserreaktor (EPR, European Pressurized Reactor) ist bis heute in Europa nicht einsatzfähig.
Präsident Macron: Frankreich sieht in der Atomtechnik einen Garant für Größe und Macht
Der Bau des ersten EPR begann 2005 an der finnischen Ostseeküste und dauert bis heute an, seine Baukosten haben sich inzwischen vervielfacht. Auf halbem Weg stieg der deutsche Siemens-Konzern als Bauherr aus. Allein verantwortlich war damit der französische Areva-Konzern, der bald große Verluste meldete. Er konnte nur durch die Übernahme von EDF und Milliardenzahlungen des französischen Staats gerettet werden. Das lag auch am zweiten EPR-Projekt, das in Frankreich in der Ortschaft Flamanville an der Ärmelkanalküste geplant wurde. Das Bauvorhaben, das 2009 begann, verlief nicht besser als in Finnland. Ursprünglich auf 2,5 Milliarden Euro veranschlagt, soll der Reaktor inzwischen rund zwölf Milliarden Euro kosten. Qualitätsprobleme der französischen Zulieferer, die seit Jahrzehnten keinen neuen Reaktor mitgebaut haben, erklären einen Großteil der Kostenexplosion.
Neue AKW - egal ob sinnvoll oder nicht
Heute weiß EDF immer noch nicht, ob 2021 eine Fertigstellung des EPR in Flamanville möglich ist. Genau die aber galt bisher als Voraussetzung dafür, dass überhaupt neue Reaktoren gebaut werden konnten. Ist diese Bedingung nach dem Brief der Minister nun obsolet?
Yves Marignac, Leiter des atomkritischen Energie-Informationsdienstes Wise-Paris (World Information Service on Energy) und Mitglied der ständigen Expertengruppe der höchsten französischen Atomsicherheitsbehörde (ASN) nennt gegenüber dem SPIEGEL drei Gründe, warum Frankreich trotz aller Rückschläge nicht von der Atomindustrie loskommt:
• EDF, Areva und Siemens hatten noch in den Nullerjahren den Bau und Export Hunderter EPR-Reaktoren geplant. Doch das Modell war auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. In Frankreich übernahm daraufhin der Staat wieder die volle Kontrolle über die Atomindustrie. Andere Länder zogen sich zurück. British Energy, der größte britische AKW-Betreiber, wurde von EDF übernommen. Ein energiepolitischer Strategiewechsel aber blieb aus, Wind und Sonne bedienen bis heute nur rund acht Prozent des französischen Stromverbrauchs.
• Die Franzosen betrachten die Elektrizitätsversorgung noch immer als einen öffentlichen Dienst, der dem Staat obliegt. Der kann folglich nach Belieben walten, solange die Preise für den Verbraucher nicht steigen. EDF hat inzwischen einen Schuldenberg von über 30 Milliarden Euro angehäuft, auch deshalb, weil dem Konzern alles erlaubt ist, nur nicht, die Strompreise zu erhöhen. Dafür dürfen die Atommanager von EDF und den zuständigen Ministerien ihre energiepolitischen Entscheidungen praktisch in Eigenregie treffen.
• Noch immer sieht Frankreich seine eigene Größe und Macht durch seine Atomtechnik garantiert, daran wollen auch die Bürger nicht rütteln. Dazu zählt nicht nur der Unterhalt von Atomwaffen, sondern auch die zivile Atomindustrie. Sie ist Teil vieler außenpolitischer Deals, etwa wenn es wie im Fall Irans darum geht, das Land mit ziviler Atomenergie zu versorgen, damit es keine Atomwaffen baut.
„Keine französische Regierung wollte bisher an diesem dreifachen Atomkonsens rütteln“, sagt Marignac. Die logische Folge: Frankreich muss neue AKW bauen, ganz gleich ob das wirtschaftlich und klimapolitisch sinnvoll ist oder nicht.