Von Barbara Nolte • am 23. Januar 2023
Im 25. Stock über Wiens Donauinsel, in einem kleinen, nur mit einem Strauß rosafarbener Plastikgeranien geschmückten Büro, sitzt der Franzose Eric Mathet. Sein Beruf ist es, Ländern beim Einstieg in die Atomenergie zu helfen.
Mathet arbeitet für die Internationale Atomenergie-Organisation, IAEA, die hier in der so genannten Uno-City ihren Hauptsitz hat. Er ist ein drahtiger Mann mit markanter Nase und schmalem Anzug, 57 Jahre alt.
Vorletztes Jahr ist er zum Beispiel nach Kenia gereist, erzählt er. Der dortige Präsident William Ruto hatte bereits vor mehr als zehn Jahren angekündigt, ein Kernkraftwerk bauen zu wollen. Damals war er Bildungsminister. Zwischenzeitlich stand er wegen Anstiftung zum Mord vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Mit dem Bau eines AKW ist bis heute nicht begonnen worden.
Vergangenes Jahr war Mathet in Ägypten, wo seit einem halben Jahr in El Dabaa, 160 Kilometer westlich von Alexandria, ein Reaktor russischer Bauart errichtet wird. Zurzeit betreut er Bangladesch. Der erste von insgesamt zwei von Russland gebauten Reaktoren soll noch dieses Jahr ans Netz gehen.
„Wir haben eine Liste von 19 Themenfeldern, die ein Land angehen muss, wenn es ein Atomenergieprogramm auflegen will“, erklärt Mathet. Das reicht von Ausbildungsstätten fürs Personal bis hin zu einem Konzept für den Umgang mit Atommüll.
Er hat noch keinem Land wegen politischer Instabilität oder geologischer Besonderheiten von Atomkraft abgeraten. „Das ist nicht unsere Rolle“, sagt er.
Dass eine internationale Organisation Staaten den Weg in die Atomenergie ebnet, klingt aus deutscher Perspektive, wo eine große Mehrheit den Ausstieg aus der Technologie befürwortet, seltsam. Doch es entspricht dem Mandat der IAEA, einer autonomen UN-Behörde, die 1957 gegründet wurde, um die militärische Nutzung der Kerntechnik zu beschränken und dafür die friedliche Nutzung der Atomenergie in der Welt zu verbreiten.
Mathet und seine Kollegen beraten zurzeit 29 Staaten. Dazu sind sie in den vergangenen Jahren zum Beispiel nach Sri Lanka, Uganda und Usbekistan gereist. „Immer mehr Länder kommen auf uns zu“, sagt er stolz.
Die Technologie, die spätestens seit Fukushima hierzulande als überholt galt, erscheint manchen Ländern wieder als zukunftsweisend. Nicht nur in Asien und Afrika, wo Mathets Klienten meist sitzen. Durch die Klimakrise und das Versiegen des russischen Gases wird auch im Westen wieder über Atomkraft diskutiert. In Deutschland beschränkt sich der Parteienstreit darauf, ob bestehende Meiler über Monate oder wenige Jahre weiterlaufen sollen. Wie es aussieht, werden die letzten drei AKW Mitte April abgestellt.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat dagegen eine „Renaissance der Atomkraft“ angekündigt: Bis 2050 sollen bis zu 14 neue Atomreaktoren gebaut werden. Großbritanniens „Energiesicherheitsstrategie“ sieht acht neue Meiler vor. Die Niederlande planen bis 2035 zwei Reaktoren. Estland will ein kleines AKW. Polen meldete im Dezember den Vertragsabschluss mit dem US-Konzern Westinghouse für den Bau eines Reaktors nördlich von Danzig.
Zwar sind es in Europa konservative oder liberale Regierungen, die die Kernkraft wiederbeleben wollen. Auch Schwedens neue Rechtskoalition will jetzt mit Kreditgarantien über 36,3 Milliarden Euro den Bau neuer Meiler vorantreiben. Doch scheint sich vor der Bedrohung des Klimawandels das Rechts-Links-Schema aufzuweichen, in das sich Befürworter und Gegner der Kernkraft einordnen ließen. In Großbritannien hat sich zum Beispiel die Gruppe „Greens for nuclear energy“ gegründet.
Im Trend liegen kleine AKW: Ähnlich wie Fertighäuser sollen sie in Teilen vorgebaut und vor Ort nur zusammengesetzt werden, um Zeit und Geld zu sparen. Joe Biden sprach sich für diese so genannten Small Modular Reactors, SMR, aus, Bill Gates ist Hauptinvestor eines SMR-Unternehmens.
In Europa plant Tschechien, kleine modulare Reaktoren über das Land verteilt zu errichten, um Kohlekraftwerke zu ersetzen. Die Pilotanlage soll nördlich der Stadt Ceske Budejovice entstehen, 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.
Von Ceske Budejovice geht es mit dem Bus durch eine hügelige, von Seen durchzogene Landschaft – eine beliebte Urlaubsgegend. Auf einer Anhöhe steht ein weißes Schloss. Hier hat Tschechiens Ministerpräsident Petr Fiala im September einen „südböhmischen Nuklearpark“ angekündigt – zur Verblüffung einer bayerischen Delegation, die im Publikum saß und vorher nichts davon wusste. Von „einer fast dreistündigen Show, in der in den schönsten Farben gemalt wurde, wie Atomenergie in Tschechien ausgebaut werden soll“, berichtet der bayerische Bezirkstagspräsident Olaf Heinrich, CSU, verärgert.
Hier scheiden sich die Geister, was Atomkraft angeht, an der Landesgrenze: 2021 sprachen sich 79 Prozent der Tschechen in einer Umfrage für Atomkraft aus.
Der Bus erreicht ein Hochplateau, an dessen Ende vier kegelförmige Schlote zu sehen sind, aus denen Wasserdampf quillt: die Kühltürme des AKW Temelin. Daneben soll der neue Reaktor gebaut werden.
In der Eingangshalle des Kraftwerks stehen Jugendliche mit Bauhelmen vor der Sicherheitskontrolle. Jeden Tag kommen Schulklassen, erklärt Jana Gribbinová vom halbstaatlichen Energiekonzern Cez, die zusammen mit ihrem Kollegen Marek Sviták eine Führung vorbereitet hat. Es geht durch einen Metalldetektor wie am Flughafen und eine weitere Schleuse, in der die Strahlenbelastung gemessen wird. Die Kontrolllampe leuchtet grün, und man ist drin im Sicherheitsbereich.
Rund um die Reaktorblöcke ist es menschenleer, nur in der Ferne steht ein Grüppchen bei einem Aschenbecher. Noch ist Brachland, wo der Nuklearpark entstehen soll. Sviták biegt ab in eine der beiden riesigen Turbinenhallen, in denen zusammen 20 Prozent des tschechischen Strombedarfs produziert werden. Danach geht er weiter in den Schulungstrakt, in dem die Kontrollstände der Reaktoren eins zu eins nachgebaut sind, um das Personal auf alle Eventualitäten vorzubereiten: eine Wand mit Hunderten teilweise rot leuchtenden Lämpchen.
Abschließend gibt es noch ein Präsent: Honig, der aus einem Bienenstock beim Besucherzentrum des Kernkraftwerks stammt, aus Pollen, die Bienen auf dem Werksgelände gesammelt haben.
In Temelin gehen sie offensiv mit dem Thema Kernkraft um. Sie veranstalten auch Kinderfeste, sagt Gribbinová. „Und es gab bereits 120 Hochzeiten im Besucherzentrum!“ Was die Ausbaupläne des AKW angeht, erwarten sie wenig Widerstand. Außerdem soll hier ein Forschungs- und Schulungszentrum entstehen, was gut bezahlte Arbeitsplätze bedeutet. „Wir sind ein Land im Zentrum Europas, wir haben keine Küsten, vor denen wir Windparks errichten können“, sagt Sviták. „Wir brauchen eine Mischung aus Erneuerbaren und Kernkraft als sichere und günstige Energiequelle.“
Eine erste geologische Prüfung des Untergrundes sei abgeschlossen, sagt Sviták. Außerdem sei ein „Memorandum of Understanding“ mit sieben Unternehmen geschlossen worden, die SMR-Modelle entwickeln. Dazu zählen ein Konsortium um Rolls Royce, das mit 240 Millionen Euro Fördergeldern der britischen Regierung den „UK-SMR“ entwickelt, und der französische Energiekonzern EDF.
Das Öko-Institut in Freiburg hat im Auftrag des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung in einer Studie 31 SMR-Konzepte betrachtet. Manche versprechen neue Technologien, die Atommüll verbrennen und eine Kernschmelze unmöglich machen. „Diese Reaktorkonzepte sind weit von der Marktreife entfernt“, sagt Christoph Pistner, der die Studie mitverantwortet hat.
Kleine AKW, die mit der herkömmlichen Technologie betrieben werden, können trotzdem sicherer sein als die großen, weil sie sich besser kühlen lassen. Sind sie klein genug, kann in abgeschaltetem Zustand sogar zirkulierende Luft eine Kernschmelze verhindern, theoretisch, denn es gibt solche Modelle nur auf dem Papier. Die beiden großen Probleme der Kernkraft lösten auch die Kleinen nicht, sagt Pistner: die Endlagerfrage. Und die Gefahr der Proliferation, die Verbreitung waffenfähigen Nuklearmaterials, würde bei einer weltweiten Errichtung von SMR sogar eher größer.
Für den Energie-Experten Mycle Schneider spricht ein weiteres Argument gegen die Kernenergie: Unwirtschaftlichkeit. „Wenn man die klassischen Probleme der Atomkraft – Sicherheit, Proliferation und Atommüll – außer Acht lässt, bleiben zwei systemische Grundprobleme: Bauzeit und Kosten laufen aus dem Ruder“, sagt er.
Schneider, 63, verantwortet die umfangreichste Datenanalyse über die Atomindustrie: den „World Nuclear Industry Status Report“, den er seit 2007 jährlich zusammen mit internationalen Kollegen erstellt. Als Beispiel nennt er den US-Konzern Westinghouse, der in Polen bauen soll. Westinghouse habe in den USA 2006 zugesagt, einen Reaktor in 36 Monaten errichten zu können. Zwei Blöcke in Georgia sind nach fast zehn Jahren noch nicht fertig. Die Kosten lägen bei mehr als 30 MilliardenEuro. Zwei Meiler in North Carolina musste das Unternehmen ganz aufgeben. Westinghouse ist darüber pleite gegangen.
Dass noch immer Atommeiler gebaut werden, liegt Schneiders Meinung nach häufig an geostrategischen Interessen. Als Beispiel nennt er das AKW, das das russische Unternehmen Rosatom in der Türkei errichtet. „Die Russen tragen das Investitionsrisiko, betreiben das Kraftwerk und nehmen abgebrannte Brennstäbe zurück. Es gibt nichts, was zwei Länder länger verbindet als eine atomare Infrastruktur.“
Atomkraft sei nicht konkurrenzfähig, resümiert er. Nach einer Schätzung der US-amerikanischen Investmentbank Lazard sei sie mehr als viermal so teuer wie die Energiegewinnung aus Sonne und Wind.
Es gibt einen Weg, das Atomzeitalter auf sehr wirtschaftliche Weise fortzuführen: indem man Kernkraftwerke über die ursprünglich genehmigte Dauer hinaus weiterlaufen lässt.
Milliarden aus dem„Inflation Reduction Act“der US-Regierung und EU-Subventionen aufgrund der neuen „Taxonomieregeln“ zielten eher auf Laufzeitverlängerungen, sagt Schneider.
Doch das Problem ist, dass dieser Weg noch unsicherer ist. Einer Greenpeace-Studie zufolge sinkt der Sicherheitsstandard eines AKW ab einem bestimmten Alter, selbst wenn es technologisch nachgerüstet wurde.
Die IAEA hat ein Programm aufgelegt, um Länder dabei zu unterstützen, Sicherheitsmängel bei alten Kraftwerken zu beheben. Missionen nach Bulgarien, Rumänien und Slowenien sind geplant. Wenn ein Land um Hilfe bitte, erklärt Fuming Jiang, der das Programm leitet, schicke er 10 bis 15 Experten für zwei Wochen los. Sie schauten sich an, wie dort die zentralen Systeme auf Alterungsspuren hin überprüft würden und ob der Einbau neuer Technik in Betracht gezogen würde. Auf nachfolgenden Missionen wird gecheckt, ob die Mängel behoben sind.
Jiang, 45, stammt aus China, aus Qinshan, wo das erste AKW des Landes in Betrieb ging. Mittlerweile gibt es in seiner Heimatstadt neun Reaktoren, sagt er. Mancher wäre in der Umgebung Atomkraftgegner geworden, Jiang hat sich gerade wegen seiner Erfahrungen die Kernenergie als Berufsfeld ausgewählt. „Ich habe erlebt, wie der Lebensstandard gestiegen ist. Und jetzt haben wir mehr als 300 Clean-Air-Days im Jahr!”, sagt er.
An der Wand seines Büros in Wiens Uno-City hängt ein Gruppenfoto, das ihn lächelnd und mit Sonnenbrille vor dem havarierten Reaktor in Fukushima zeigt. Er war bei mehr als 50 IAEA-Missionen in 26 Ländern dabei. Kaum jemand hat so viele Kernkraftwerke von innen gesehen wie er. Wo in der Welt er besonders viel zu beanstanden hatte, darf er nicht sagen. Die nukleare Sicherheit liegt in der Hoheit von Staaten. Die IAEA kann nur Druck machen. Wenn sie angefordert wird.
Einen kritischen Punkt benennt er dann doch: die „Sicherheits-Kultur“ in Kernkraftwerken ständig zu verbessern. Er zieht ein Cartoon hervor, das eine gerupfte Ente zeigt, die in einen See schaut und als Spiegelbild einen schönen Schwan sieht. Er benutzt es in Schulungen, um zu illustrieren, dass es mit der Selbstkritik so eine Sache ist. Da kommen seine Experten ins Spiel, die einen frischen Blick haben.
Nicht jede IAEA-Mission endet so, wie es der Satzung von 1957 entspricht. Vietnam, Thailand und Malaysia, die sich beraten ließen, haben sich gegen die Atomkraft entschieden.