4 December 2021

Berner Zeitung (Switzerland)

Die Welt produziert immer weniger Atomstrom

Die Nuklearindustrie sieht die Kernenergie als Option gegen den Klimawandel und erwartet einen Aufschwung. Die nackten Zahlen zeigen aber ein ganz anderes Bild.
Source : Berner Zeitung: Die Welt produziert immer weniger Atomstrom https://www.bernerzeitung.ch/atomkraft-verliert-weiter-an-boden-856047691179

von Martin Läubli am 1. Oktober 2021

Baustart war im August 2005: Das Kernkraftwerk Olkiluoto 3 in Finnland ist bis heute nicht am Netz.
Baustart war im August 2005: Das Kernkraftwerk Olkiluoto 3 in Finnland ist bis heute nicht am Netz.
Foto: Beat Mathys

Kleine Rolle beim Klimaschutz Die Nuklearindustrie sieht die Kernenergie als Option gegen den Klimawandel und erwartet einen weltweiten Aufschwung. Die nackten Zahlen eines neuen Statusberichts zeigen aber ein ganz anderes Bild.

Es macht den Eindruck, als ob die Stimme der Nuklearindustrie zunehmend lauter würde, je näher die nächste Klimakonferenz in Glasgow im November rückt. «Der globale Ausstieg aus der fossilen Energie wird viel einfacher sein mit Kernenergie», sagte Rafael Mariano Grossi, Direktor der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), an der Generalversammlung im September. Die Kernkraft spielte bisher in der internationalen Klimapolitik eine untergeordnete Rolle. Sie galt bis dato nicht als Alternative zu den fossilen Energiequellen, mit der man Klimazertifikate generieren konnte.

Auch für die Europäische Union ist die Kernenergie nach wie vor eine Option, um die ehrgeizigen Klimaziele des «Europäischen Green Deal» umzusetzen. So kam das Joint Research Centre in seinem Bericht für die Europäische Kommission zum Schluss, die Kernenergie verursache keinen «signifikanten Schaden» für Mensch und Umwelt und könne damit als nachhaltige Technologie finanziell gefördert werden.

Optimistische Atombehörde

Der Bericht des Instituts führte zu geharnischter Kritik. Für die deutsche Regierung gibt der Bericht keine umfassende Analyse wieder, wie nachhaltig die Nuklearenergie ist. Das Problem der Lagerung von radioaktivem Abfall sei zum Beispiel vernachlässigt worden. Sieben Minister von fünf europäischen Staaten, darunter Deutschland und Spanien, machen in einem Statement klar, dass Kernenergie keineswegs nachhaltig sei und damit nicht gefördert werden dürfe.

Die IAEA erwartet in ihrem im September publizierten jährlichen Ausblick eine Verdoppelung der Kapazität bis 2050. Die eben veröffentlichte Statistik im «World Nuclear Industry Status Report» vermittelt jedoch keine Anzeichen in diese Richtung. Der Report ist wohl der umfassendste Bericht über den globalen Zustand der Kernenergie. «Der verbreitete Eindruck von der Kernenergie entspricht nicht ganz der Realität», sagt Hauptautor Mycle Schneider.

Derzeit sind weltweit in 33 Staaten 415 Kernreaktoren in Betrieb. Das sind 23 weniger als im Spitzenjahr 2002 mit 438 Reaktoren. Die Kapazität ist zwar gegenüber dem Vorjahr um 1,9 Prozent gestiegen, liegt aber mit 369 Gigawatt im Vergleich zum früheren Maximum im Jahr 2006 (367 Gigawatt) nur unwesentlich darüber. Die Stromproduktion weltweit ist hingegen 2020 gegenüber dem Vorjahr zum ersten Mal seit 2012 um 3,9 Prozent gesunken. Der Anteil der Kernenergie an der globalen Stromproduktion zeigt weiterhin einen - langsamen - Abwärtstrend. Er betrug im letzten Jahr 10,4 Prozent - das ist deutlich unter dem Spitzenwert von 17,5 Prozent im Jahre 1996.

Für diese negative Entwicklung ist sicherlich auch der Lockdown der Industrie aufgrund der Covid-19-Pandemie mitverantwortlich. Allerdings wird der allmähliche Übergang zu erneuerbaren Energiequellen deutlich: Der Energiekonsum von Wasserkraft ist im globalen Durchschnitt um 1 Prozent gestiegen, in der EU sogar um mehr als 7 Prozent. Die neuen Erneuerbaren, namentlich Sonnenenergie, Windkraft und Biomasse wie Holz und Biogas, zeigen ein beachtliches Wachstum in den Konsumwerten: knapp 10 Prozent - trotz Pandemie.

Auch wenn in 33 Staaten Kernreaktoren in Betrieb sind - diese Zahl täuscht darüber hinweg, dass nur fünf Staaten für 72 Prozent der globalen nuklearen Stromproduktion verantwortlich sind: USA, China, Frankreich, Russland und Südkorea. Wenn diese Länder eine rückläufige Entwicklung aufzeigen, so macht sich das in der Jahresstatistik bemerkbar: Nach dem Allzeithoch 2019 ist etwa in den USA im letzten Jahr die nukleare Stromproduktion um knapp 2,5 Prozent gesunken. Vier Reaktoren wurden in den letzten zwei Jahren geschlossen. «Es ist möglich, dass das Land nie mehr das frühere Niveau erreichen wird», schreiben die Autoren im Statusbericht.

In China scheint die Begeisterung für die Kernkraft nachzulassen. Die Nuklearindustrie hatte in den letzten zehn Jahren ein horrendes Tempo hingelegt: 40 der 52 Reaktoren gingen in diesem Zeitraum ans Netz. «Die Regierung scheint nun vorsichtig geworden zu sein», schreiben die Autoren. Die Regierung schweigt jedenfalls derzeit über neue Projekte, wie sie das auch nach dem Reaktorunfall in Fukushima getan hat. Im Januar dieses Jahres machte sich die chinesische Behörde Sorgen um die Qualität verschiedener Reaktorprojekte. Dafür ist inzwischen die Kapazität an Wind- und Sonnenkraftwerken gestiegen - nahezu um 18 Prozent im letzten Jahr.

Nukleares Tief in Frankreich

Für die französische Nuklearindustrie war das letzte Jahr ein Tiefschlag. Die Produktion fiel um 11,6 Prozent. «Das ist mehr als die Jahresproduktion von zwei Dritteln aller Staaten mit nuklearer Energie», heisst es im Statusbericht. Die Produktionskurve zeigt für die letzten fünf Jahre einen Abwärtstrend. Der grösste Teil der Reaktoren ist älter als 31 Jahre. Die Lizenzen für die Kernreaktoren gelten meistens für eine Lebensdauer von 40 Jahren. Ein neues Kernkraftwerk scheint derzeit ein Ding der Unmöglichkeit.

Das heisst: Die Betreiber werden sich in den nächsten Jahren mit teuren Investitionen konfrontiert sehen für eine Verlängerung der Lizenz. Und das vor dem Hintergrund grosser Konkurrenz durch billigere erneuerbare Energie und eines abnehmenden Absatzes von nuklearem Strom im europäischen Markt. Kommt hinzu, dass gemäss Umfragen des französischen Instituts für Nuklearsicherheit der Zuspruch der Bevölkerung zusehends schwindet - im Gegensatz zur Solar- und Windenergie.

«Die Erfahrung zeigt, dass selbst ein Reaktor in fortgeschrittenem Baustadium keine Garantie ist, dass er jemals ans Netz geht», heisst es im Bericht. Seit 1951 wurde jeder achte Reaktor stillgelegt, bevor er je Strom produzieren konnte - sei es aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen. In den USA wurden in diesem Zeitraum 42 Projekte aufgegeben.

Olkiluoto schreckt ab

Wie gross das Risiko ist, in die Kernkraft zu investieren, zeigt das Beispiel von Olkiluoto-3 in Finnland. Der Kernreaktor der dritten Generation, die im Gegensatz zu den früheren Modellen eine grössere Sicherheit ausweist, sollte zum Aushängeschild der Nuklearindustrie werden. Das Projekt stand seit Beginn unter einem schlechten Stern, es haperte am Management und an den Qualitätsauflagen. Schliesslich kamen Finanzprobleme hinzu und juristische Streitereien zwischen den Anlagebauern und dem Betreiber. Nun soll das Kernkraftwerk gemäss Anlagebauer im Juni 2022 regulär ans Netz. 3,2 Milliarden waren für den Bau budgetiert, nun wird mit Kosten von 8,5 Milliarden gerechnet.

Der Statusbericht geht davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten deutlich mehr Kernrektoren vom Netz gehen, als neue gebaut werden. Das heisst: Eine Verlängerung der Betriebszeiten der Reaktoren wird vermutlich weltweit zur Regel werden. In den USA zum Beispiel, wo die Reaktoren durchschnittlich über 40 Jahre alt sind, haben 85 von 93 Reaktoren bereits eine Lizenz für weitere 20 Betriebsjahre erhalten. In der Schweiz gibt es keine Altersgrenze, die Reaktoren dürfen so lange betrieben werden, wie sie nachweislich sicher sind.

Eine Verlängerung der Betriebszeiten der Reaktoren wird vermutlich weltweit zur Regel werden.

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