Von Silke Kersting • am 5. Oktober 2022
Die Zahl weltweit betriebsbereiter Atomreaktoren ist zwischen Mitte 2021 und Mitte 2022 um vier auf 411 Reaktoren in 33 Ländern weiter gesunken. Der Anteil der Atomkraft an der kommerziellen Stromerzeugung sank auf 9,8 Prozent und befindet sich damit auf dem niedrigsten Stand seit 40 Jahren, während der Anteil von Wind- und Solarkraft auf über zehn Prozent anstieg und damit die Atomkraft erstmals überholte.
Das sind zentrale Ergebnisse aus dem World Nuclear Industry Status Report (WNISR) 2022, der am Mittwoch veröffentlicht und in Deutschland in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin vorgestellt wurde.
Der WNISR wurde erstmalig 1992 herausgegeben. Eine internationale Gruppe von Expertinnen und Experten bewertet den Stand und die Trends der internationalen Kernenergie. Koordinator und Herausgeber des WNISR ist der Atomexperte Mycle Schneider. Dieser erklärte: „Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Realität des Atomindustriesektors von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und zahlreicher Entscheidungsträger als blühende Zukunftstechnologie unterscheidet.“
Das Durchschnittsalter der in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke liegt bei 31 Jahren. Mehr als jeder fünfte Reaktor ist seit mehr als 40 Jahren in Betrieb.
In Deutschland erhöhte sich die Stromerzeugung aus der Kernenergie um 7,4 Prozent. Drei Reaktoren wurden Ende 2021 stillgelegt. Die drei verbleibenden Reaktoren sollten Ende 2022 abgeschaltet werden, doch wegen der Energiekrise streitet sich die Bundesregierung über einen Weiterbetrieb von zwei AKWs bis ins Frühjahr.
In Frankreich erhöhte sich im vergangenen Jahr die Stromerzeugung aus Kernenergie. In diesem Jahr allerdings können im Nachbarland aus technischen Gründen viele Reaktoren nicht laufen. Die Autoren des WNISR-Berichts erwarten, dass der daraus resultierende Rückgang der Stromerzeugung 2022 auf ein Niveau zurückgeht, das zuletzt 1990 erreicht wurde.
Der Report zeigt, dass die Atomkraft ihre Höchstwerte seit Jahrzehnten überschritten hat, etwa die Anzahl laufender AKWs 2002, der Anteil der Atomkraft am Strommix 1996 oder die Betriebsaufnahmen Mitte der 1980er-Jahre. „Ohne staatliche Hilfe geht nichts“, sagte Schneider. „Fast 90 Prozent der im Bau befindlichen AKWs werden außerdem entweder in Atomwaffenstaaten gebaut oder von solchen in Nichtatomwaffenstaaten errichtet.“
Insgesamt befinden sich nach WNISR-Recherchen 53 Reaktoren mit einer Kapazität von 53,3 Gigawatt im Bau. Vier von fünf Reaktoren werden in Asien oder Osteuropa gebaut. Bei gut der Hälfte gibt es Verzögerungen. Durchschnittlich sind seit ihrem Baubeginn 6,8 Jahre vergangen. Nur in vier Ländern, in China, Indien, Russland und Südkorea, wird an mehr als einem Standort gebaut.
Statt 16 Reaktoren gingen im vergangenen Jahr nur sechs erstmals ans Netz, davon drei in China und je einer in Indien, in Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Acht Reaktoren wurden 2021 stillgelegt, darunter drei in Deutschland und je einer in Pakistan, Russland, Taiwan, Großbritannien und den USA.
Neu begonnen wurde 2021 mit dem Bau von zehn Reaktoren, davon sechs in China, zwei in Indien sowie jeweils einem Reaktor in der Türkei und in Russland.
China produzierte das zweite Jahr in Folge mehr Atomstrom als Frankreich und bleibt auf dem zweiten Platz – hinter den Vereinigten Staaten – der größten Atomstromerzeuger.
Die Volksrepublik, mit etwa 1,4 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde, ist seit Jahren ein zentraler Akteur beim Bau und der Nutzung von Atomenergie. In den zwei Jahrzehnten von 2002 bis 2021 wurden 98 Reaktoren in Betrieb genommen, davon 50 allein in China. Stilllegungen gab es insgesamt 105 – aber keine einzige in China.
In China sind laut WNISR derzeit insgesamt 21 Reaktoren im Bau. Damit steht das Land an erster Stelle in der Statistik. Die Stromerzeugung aus der Kernkraft stieg um elf Prozent und liefert rund fünf Prozent der Stromerzeugung im Land.
Allerdings nahm in China auch die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien zu – und zwar schneller als alle anderen Energieträger. Die Windenergie wuchs nach WNISR-Angaben im Vergleich zum letzten Bericht im vergangenen Jahr um 40 Prozent, die Solarenergie um 25 Prozent.
Zweiter zentraler Akteur ist Russland. Während China keine Atomkraftwerke im Ausland baut, spielt Russland eine entscheidende Rolle im internationalen Nuklearmarkt – und zwar sowohl im Technologie- als auch im Uranexport. Von 20 im Bau befindlichen Reaktoren des russischen Atomunternehmens Rosatom werden 17 in sieben anderen Ländern realisiert.
Neben Rosatom sind nur französische und südkoreanische Unternehmen als führende Auftragnehmer beim Bau von Atomreaktoren im Ausland tätig.
Die Türkei gehört wie Bangladesch und Ägypten zu den potenziellen Atom-Newcomer-Staaten. In allen drei Ländern entstehen Reaktoren russischer Bauart. Die Auswirkungen der Sanktionen auf Russland für diese Projekte seien derzeit ungewiss, heißt es im WNISR-Report.
Sorgen bereiten die Entwicklungen rund um das Kernkraftwerk im ukrainischen Saporischschja aufgrund des russischen Angriffskriegs. Erstmals wurden in Betrieb befindliche kommerzielle Nuklearanlagen während eines Kriegs angegriffen und anschließend von feindlichen Kräften besetzt, so der Report.
Die größte Herausforderung bestehe nun darin, die kontinuierliche Kühlung des Reaktorkerns und des Beckens mit abgebrannten Brennelementen aufrechtzuerhalten. Werde die Nachzerfallswärme nicht abgeführt, könne es innerhalb von Stunden zu einer gefährlichen Kernschmelze kommen.
Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, sagte, Kernkraft sei mit seiner Abhängigkeit von einer funktionierenden Strom- und Kühlmittelversorgung vor allem in Kriegssituationen ein unkalkulierbares Risiko.
Zudem sei der Neubau von AKWs und zum Teil der Betrieb nur in sehr wenigen Ländern und unter massivsten öffentlichen Subventionen finanzierbar. Wind- und Solarkraft seien mittlerweile deutlich günstiger, sagte Albrecht. „Damit blockiert jede zusätzliche Investition in den Atomsektor zugleich Mittel für den Umstieg in eine nachhaltige, sichere und preiswerte Energiezukunft.“
(Mehr...)