17 March 2016

Der Tagesspiegel (Germany): Die gefährlichsten Akws in Europa

Atomkraftwerke in Europa

Die gefährlichsten Akws in Europa

Nicht nur in der Ukraine, auch nahe der deutschen Grenze gibt es Probleme mit Atomkraftwerken. Größtes Risiko der insgesamt 128 Anlagen ist ihr hohes Durchschnittsalter von 30,6 Jahren.

Der Tagesspiegel, 11. März 2016

von Dagmar Dehmer

Die gefährlichsten Atomkraftwerke Europas stehen in der Ukraine, Frankreich, Belgien, Bulgarien, Tschechien, Großbritannien und Deutschland – also fast überall. Innerhalb der Europäischen Union wurden 2015 noch 128 Atomkraftwerke betrieben, heißt es im World-Nuclear-Report, den der Pariser Atomexperte Mycle Schneider herausgibt. Das Durchschnittsalter dieser Anlagen lieg bei 30,6 Jahren. Das hohe Alter vieler Anlagen ist auch ihr größtes Risiko.

In der Ukraine kommen zum hohen Alter die chronische Wirtschaftskrise, die Sicherheitsinvestitionen verhindern, Managementprobleme in vielen der 15 aktuell betriebenen Kraftwerke sowie die kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten des Landes dazu. Wobei sich der dramatischste Zwischenfall 2015 nicht im Osten, sondern im Süden der Ukraine ereignet hat. Am Standort Saporischschja, wo sechs Reaktoren betrieben werden, hat es 2015 eine Notabschaltung aller Meiler gegeben, weil es im Stromnetz zu Spannungsschwankungen gekommen war. Diese waren nach Informationen der österreichischen Umweltorganisation „Global 2000“ Folge eines Sabotageaktes. Separatisten der von Russland 2014 annektierten Krim-Halbinsel sollen einen Hochspannungsmast gesprengt haben.

Vor 30 Jahren ist ein Reaktor in Tschernobyl explodiert

Vor knapp 30 Jahren ist der Reaktor vier des Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert. Bis heute leiden zehntausende Menschen im Umkreis der Anlage und im benachbarten Weißrussland unter den Folgen der Verstrahlungen. Tobias Münchmeyer von Greenpeace berichtete vor Kurzem bei einer Veranstaltung in Hamburg, dass Ärzte in beiden Regionen übereinstimmend sagen: „Es gibt hier keine gesunden Kinder.“ Und wegen der Wirtschaftskrise und der im Konflikt mit Russland in der Ukraine dramatisch gestiegenen Gaspreise seien viele dazu übergegangen, wieder mit Holz zu heizen. „Das klingt ja erst mal umweltfreundlich“, sagte Münchmeyer dem Tagesspiegel. „Aber das Holz ist stark verstrahlt. Wird es verbrannt, verteilt sich die Asche auf die Felder, und das führt dazu, dass dort die Strahlenwerte flächendeckend wieder steigen.“

Hendricks kritisiert belgische Atomanlagen

Besonders beunruhigt ist Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) aber über den Zustand einiger ausländischer Atomkraftwerke, die sehr nahe an der deutschen Grenze stehen. Vor einigen Wochen traf sie sich mit ihrem belgischen Kollegen, weil die Atomkraftwerke in Doel und Tihange immer wieder durch schwerwiegende Störfälle auffallen. Im Reaktor Doel 3 und Tihange 2 sind 2012 Tausende feiner Risse in den Reaktordruckbehältern entdeckt worden. Dieser Schaden kann nicht repariert werden. Müsste der Reaktordruckbehälter ausgetauscht werden, könnte man genauso gut ein neues Atomkraftwerk bauen. Abgesehen davon, dass kein Unternehmen mehr solch uralte Modelle von Reaktordruckbehältern im Angebot hätte. Die Haarrisse haben die belgische Atomaufsicht Fanc allerdings nicht daran gehindert, das Anfahren der beschädigten Meiler im Sommer 2013 wieder zu erlauben. Im März 2014 wurden sie wieder abgeschaltet, um weitere Tests zu unternehmen. Alle sieben Reaktorblöcke sind älter als 30 Jahre. Der älteste in Doel bringt es auf stolze 42 Jahre. Dennoch will die belgische Regierung die Anlagen noch bis 2025 weiterbetreiben. Der Block Doel 1 wird dann 51 Jahre alt sein. Der Grund für die erneute Verlängerung für die Anlagen ist die starke Abhängigkeit Belgiens von seinem Atomstrom. Mehr als 47 Prozent des belgischen Stroms kommen aus den beiden Atomkraftwerken.

Am Freitag wurden weitere Sicherheitsmängel bekannt. „Nach Kenntnissen der Bundesregierung verfügen die belgischen Kernkraftwerke Doel und Tihange derzeit noch über kein System zur gefilterten Druckentlastung“, zitierte die „Rheinische Post“ aus einer Antwort des Bundesumweltministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion. Diese Filter sollen verhindern, dass bei einem Atomunfall radioaktive Luft austritt, wie das in den ersten Tagen der Atomkatastrophe in Fukushima der Fall gewesen war. Damals waren die Ventile geöffnet worden, obwohl es keine Filter gab. Damit versuchten die Betreiber damals die Wasserstoff-Explosionen zu verhindern, was allerdings misslang.

Auch französische Atomkraftwerke haben Probleme

Das Alter spielt bei einem der beiden grenznahen französischen Atomkraftwerke, nämlich Fessenheim, ebenfalls eine wichtige Rolle. Es ist das älteste französische Atomkraftwerk, das allerdings schon seit Jahren mit schweren Zwischenfällen auffällt. 2009 beispielsweise wurde der Kühlwasserkreislauf mit Pflanzenresten verstopft. Im September 2012 ereignete sich im Block 2 des Atomkraftwerks eine Gasexplosion, als dort Abwässer behandelt werden sollten. 2015 kam es in Block 1 zu einem Rohrbruch. Und 2014 musste die Anlage nach der Überflutung eines Schaltkastens durch die Zugabe von Borverbindungen abgeschaltet werden, weil die Reaktorfahrer nicht erkennen konnten, wo sich die Steuerstäbe, mit denen die Kettenreaktion zunächst unterbrochen werden kann, befinden. Der Kurzschluss im Schaltkasten hatte zu einem Ausfall der Kontrollinformationen für diese Steuerstäbe geführt. Dieser Vorfall ist erst vor wenigen Tagen einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden.

Die Reaktoren in Cattenom etwas weiter nördlich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Saarland sind zwar jünger, haben aber ebenfalls eine ernüchternde Sicherheitsbilanz. Bis 2012 ist es in Cattenom zu 750 Störfällen gekommen. 2012 stellte die französische Atomaufsicht in den Blöcken 2 und 3 fest, dass ein Bauteil fehlte, das eigentlich das Auslaufen des Kühlbeckens hätte verhindern sollen. Insgesamt betreibt Frankreich 59 Atomkraftwerke, die etwa drei Viertel des im Land verbrauchten Stroms erzeugen. Das Uran fördert der gerade in die Insolvenz gegangene Staatskonzern Areva im westafrikanischen Niger unter vielfach kritisierten Bedingungen.

Die geährlichsten Meiler stehen in Bulgarien

Auch die Meiler im bulgarischen Kosloduj dürften zu den gefährlichsten in Europa zählen. Vier der sechs Reaktoren mussten im Zuge des EU-Beitritts stillgelegt werden. 2013 kritisierte die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) nach einer Inspektion schwere Sicherheitsmängel. So gibt es keine Vorgaben für die Betriebsmannschaften, was sie im Falle eines schweren Unfalls tun sollen. 2006 klemmten im bis heute betriebenen Block 5 sogar 22 von 60 Steuerstäben, weil deren Design im Zuge von Nachrüstungen verändert worden war. Auch in diesem Fall musste die Anlage durch die Zugabe von Bor abgeschaltet werden.

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