SPIEGEL ONLINE 04. November 2013, 12:06 Uhr
Erderwärmung
Renommierte Klimaforscher fordern Renaissance der Kernkraft
Die Menschheit verbraucht immer mehr Energie, der Ausstoß von Treibhausgasen steigt, der Klimawandel schreitet voran. Vier namhafte Klimaforscher fordern nun einen Ausbau der Atomkraft. Nur so sei eine Senkung der CO2-Emissionen realistisch.
Das 21. Jahrhundert läuft bislang nicht gut für die Kernenergie. Der Atomunfall von Fukushima hat das Image der Branche stark ramponiert, und auch der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung sinkt. 1993 betrug er 17 Prozent, inzwischen liegt der Wert bei nur noch zehn Prozent. Die immer mal wieder beschworene Renaissance der Atomkraft findet bislang nicht statt.
Nun fordern vier renommierte Klimaforscher eine Rückbesinnung auf die Kernkraft. Der Widerstand gegen Atomkraftwerke gefährde den Kampf gegen den Klimawandel, schreiben Ken Caldeira, Kerry Emanuel, James Hansen und Tom Wigley in einem offenen Brief. Hansen leitete von 1981 bis 2013 das Goddard Institute for Space Studies der Nasa und warnte bereits in den achtziger Jahren vor den Folgen des Klimawandels.
Die vier Wissenschaftler appellieren an Politiker und Umweltschutzorganisationen weltweit, sich für die Entwicklung sicherer Atomkraftwerke einzusetzen. “Der weltweite Energiebedarf steigt”, schreiben sie. Gleichzeitig müsse der CO2-Ausstoß gesenkt werden. Mit erneuerbarer Energie allein sei das kaum zu schaffen. “Es gibt keinen realistischen Weg zu Stabilisierung des Klimas, der ohne einen substantiellen Anteil der Kernenergie auskommt.”
“Unvoreingenommener Umgang mit der Kernenergie”
Die vier renommierten Klimaforscher räumen ein, dass die Nutzung der Kernenergie mit Risiken verbunden ist. Diese seien jedoch “um Größenordnungen kleiner” als die Gefahren, die von der Nutzung fossiler Energien ausgingen. Das sehen andere Experten durchaus ähnlich. Eine im April veröffentlichte Studie etwa kam zu dem Ergebnis, dass die Nutzung von Kohleenergie allein in der EU zu mehr als 18.000 vorzeitigen Todesfällen führt - pro Jahr. Die Weltgesundheitsorganisation hat die globale Zahl der Kohle-Toten sogar schon auf mehrere Millionen jährlich geschätzt.
In der Debatte über die künftige Energiepolitik sollten Fakten entscheiden, nicht Emotionen, fordern nun die vier Klimaforscher: “Die Zeit ist reif für einen unvoreingenommenen Umgang mit der Kernenergie.” Es müssten neue Technologien entwickelt werden, um die Nutzung der Atomkraft sicherer zu machen.
Bereits seit 2006, also fünf Jahre vor der Katastrophe von Fukushima am 11. März 2011, geht die absolute Menge des weltweit erzeugten Atomstroms zurück. Nach Fukushima sank die jährliche Nuklearstromproduktion weiter: 2011 um vier Prozent und dann 2012 sogar um sieben Prozent.
Allerdings gestaltet sich der Bau modernerer Atomkraftwerke schwierig, den Hansen und seine Kollegen so vehement einfordern. Kürzlich erst hat Großbritannien den Bau des ersten britischen Atomkraftwerks seit zwei Jahrzehnten verkündet. Es wird bis 2023 in der englischen Grafschaft Somerset das Atomkraftwerk Hinkley C errichtet.
In Westeuropa scheuen Energiekonzerne vor allem die hohen Kosten, neue AKW gelten als unwirtschaftlich. “Man kann heute unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten keine Kernkraftwerke mehr bauen”, sagt etwa der Energieexperte Mycle Schneider, Verfasser des “World Nuclear Industry Status Report”.
Ein massiver Ausbau der Kernenergie könnte jedoch auch an der begrenzten Verfügbarkeit von Natur-Uran scheitern. Der alternative Brennstoff Plutonium gilt als zu riskant, weil er auch zum Bau von Atomwaffen eingesetzt werden kann - und er könnte bei einer massiven globalen Ausweitung der Kernenergie weit verbreitet werden.