Japan
„Ein störanfälliges Provisorium“
Nuklearexperte Mycle Schneider, 54, Herausgeber des „Welt-Statusberichts Atomenergie“, über das Krisenmanagement in Fukushima
SPIEGEL: Japans Regierung hat den Konzern Tepco kritisiert, weil das verseuchte Wasser ins Meer läuft. Sollte der Staat die Kontrolle übernehmen?
Schneider: Die Firma ist de facto bereits bankrott und wurde nationalisiert, der Staat wäre also zuständig. Doch sie darf weiterwurschteln, als ginge es darum, eine Garage zu reparieren. Dabei erfordert der Umgang mit der beispiellosen Zerstörung von vier Atomanlagen die Beratung durch die besten internationalen Experten.
SPIEGEL: Was ist das größte Problem?
Schneider: Täglich drücken 400 Tonnen Grundwasser in die Keller, wo sich hochradioaktiv verseuchtes Wasser sammelt. Diese gewaltigen Massen fließen zum Teil ins Meer. Tepco will nun eine Wand mit Kühlmitteln in den Boden einziehen, die das Grundwasser vereist. Aber das wäre, wie so vieles in Fukushima, ein störanfälliges Provisorium: Es versagt, falls der Strom ausfällt. Anfällig ist auch die Kühlung: Die vier Kilometer langen Leitungen sind vor allem aus Plastik, nicht aus Stahl; Frost führt im Winter zu zahlreichen Lecks. Dabei müsste das System Jahrzehnte halten, bis der zerstörte Kernbrennstoff entfernt werden kann.
SPIEGEL: Wie schwer ist die radioaktive Belastung der Umwelt?
Schneider: Das Wasser ist besonders problematisch. Tepco lagert knapp 300000 Tonnen belastetes Wasser in provisorischen Tanks; bis Mitte 2015 sollen es mehr als doppelt so viele sein. Die Untersuchungskommission des Parlaments hat errechnet, dass in dem ganzen Wasser rund dreimal so viel radioaktives Cäsium-137 freigesetzt wurde wie beim GAU von Tschernobyl. Auch ist Reaktor 4, in dessen Abklingbecken mehr Brennstäbe unter freiem Himmel lagern als in den drei anderen Reaktoren zusammen, in katastrophalem Zustand.