7 July 2012

Der Spiegel/DAPD (Germany): Atomenergie verliert weltweit an Bedeutung

Die Atomindustrie befindet sich laut einer Studie im Niedergang. Weltweit wurden seit der Fukushima-Katastrophe 21 Reaktoren stillgelegt, aber nur neun neue in Betrieb genommen. Selbst China überdenkt offenbar seine Energiepolitik.

Der Spiegel, 6.7.2012

Paris - Rund 15 Monate nach dem Unglück von Fukushima beginnt Japan wieder mit der Produktion von Atomstrom. Doch weltweit verliert die Nuklearindustrie laut einer Studie an Bedeutung. „Die meisten Neubauprojekte sind storniert, verschoben oder komplett annulliert worden“, sagt der Energieexperte Mycle Schneider und fasst damit die Ergebnisse des „World Nuclear Industry Status Report 2012“ zusammen, den er mit seiner Beratungsfirma verfasst hat.

Laut dem Bericht wurden in den vergangenen 18 Monaten weltweit 21 Reaktoren stillgelegt und nur neun neue Anlagen in Betrieb genommen. Bei den Stilllegungen berücksichtigte Schneider im Gegensatz zur Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) auch sechs Fukushima-Reaktoren. Schneiders Begründung: Diese Anlagen könnten „beinahe sicher“ nie mehr genutzt werden.

Die angebliche Atomrenaissance ist laut Schneiders Studie eine Mär. Zwar seien weltweit noch 59 Reaktoren im Bau, die Vorhaben existierten aber zum Teil seit mehr als 20 Jahren. Viele Projekte hängen immer länger hinter dem Zeitplan zurück. Ob sie je fertiggestellt werden, sei unklar.

Insgesamt sind dem Report zufolge noch 429 Reaktoren mit einer installierten Leistung von 364 Gigawatt am Netz. Die Kernkraftnutzung habe damit ihren Höhepunkt deutlich überschritten, sagt Schneider. Im Jahr 2002 waren noch 444 Reaktoren in Betrieb.

Auch die Menge des Stroms, den alle Reaktoren zusammen produzieren, lag dem Bericht zufolge 2011 gut fünf Prozent unter dem historischen Rekord des Jahres 2006. Der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromproduktion sinkt laut der Studie bereits seit 1993 - von damals 17 Prozent auf derzeit elf Prozent.

Das Durchschnittsalter der Reaktoren steigt

Allein in Deutschland wurden nach dem Unglück in Japan acht AKW abgeschaltet, sie bleiben dauerhaft vom Netz. Bis 2022 soll das letzte AKW in der Bundesrepublik vom Netz gehen. Dem Bericht zufolge ging die Produktion von Atomstrom in Deutschland 2011 im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent zurück.

Und sogar China - das Land mit den bislang ehrgeizigsten atomaren Ausbauplänen - habe drastische Konsequenzen aus Fukushima gezogen, schreibt Schneider. Zwar seien nach der Katastrophe noch drei neue Reaktoren in Betrieb genommen worden. „Aber es ist nicht eine einzige neue Baustelle aufgemacht worden. Alle Neuplanungen wurden eingefroren.“

Er sieht allerdings mit dem sukzessiven Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie ein Problem auf die betroffenen Länder zukommen: Das Durchschnittsalter der Reaktoren steige, da nur noch eine sehr geringe Zahl neuer Anlagen in Betrieb genommen werde. Der Studie zufolge liegt das Durchschnittsalter der Atommeiler weltweit inzwischen bei 27 Jahren - Tendenz steigend.

Es stelle sich die Frage, inwieweit sich die verschlechterte wirtschaftliche Situation vieler Reaktorbetreiber auf die Sicherheit der AKW auswirke. Schneider rechnet zudem mit wachsendem Druck auf die nationalen Aufsichtsbehörden, die Reaktorlaufzeiten zu verlängern. Das hatte die Energieindustrie auch in Deutschland noch kurz vor der Reaktorkatastrophe in Japan erfolgreich durchgesetzt. Nach dem GAU in Fukushima war die Entscheidung dann revidiert und die Energiewende eingeleitet worden.

Fachkräftemangel in der Atombranche erwartet

Die Zukunft der Branche beschreibt Schneider als düster. „Man kann heute unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten keine Kernkraftwerke mehr bauen“, sagt der Experte, der 1997 für seine fundierte Kritik an der Atomkraft mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden war. Bei den erneuerbaren Energien seien die Kosten in den vergangenen Jahren drastisch gesunken. Wind- und Sonnenenergie würden zur entscheidenden Konkurrenz für die Kernenergie.

Für die Zukunft der Kernenergie sieht Schneider auch aus einem anderen Grund schwarz: Der Branche fehle es zunehmend an Nachwuchs. „Welcher junge Mensch geht denn heute noch an die Uni und sagt, er will Atomtechnologie studieren, weil das die Zukunft ist?“, fragt Schneider. Tatsächlich ist das Durchschnittsalter der Fachkräfte in der Atomindustrie in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen.

bos/dapd