von Bernward Janzing
am 28. September 2021
FREIBURG taz | Seit Jahren stagniert die weltweite Atomkraft – eine Entwicklung, die sich auch im Jahr 2020 fortsetzte. Den weiteren Bedeutungsverlust der Nuklearwirtschaft verhindert vor allem China: Ohne den Zubau der Reaktoren im Reich der Mitte wäre die globale Atomstromerzeugung im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit 1995 gefallen.
Diese Zahlen gehen aus dem alljährlich publizierten World Nuclear Industry Status Report (WNISR) hervor, der am Dienstag zeitgleich in Washington und Paris vorgestellt wurde. Der Report gilt als die profundeste öffentlich verfügbare Datenanalyse zur globalen Atomwirtschaft. Hauptautor des im Jahr 1992 erstmals erschienenen Reports ist Mycle Schneider, ein deutscher Energie- und Atompolitikberater, ansässig in Paris. Sein Co-Autor ist Antony Froggatt, Berater beim britischen Thinktank Chatham House. Finanziert wird die Branchenanalyse von Sponsoren; in diesem Jahr sind es mehrere Stiftungen, ferner die europäischen Grünen und die Elektrizitätswerke Schönau. Trotz atomkritischer Geldgeber erfahren die Ausarbeitungen, da sie sehr faktenbasiert sind, auch in der Atomwirtschaft stets Anerkennung.
Der jüngste Report zeigt, dass sich China, gemessen an der erzeugten Atomstrommenge, im Jahr 2020 auf Platz zwei hinter die USA und erstmals vor Frankreich geschoben hat, wo der Anteil der Atomkraft am Strommix auf den niedrigsten Stand seit 1985 sank. Aber auch in China stieg die Atomstromerzeugung langsamer als in früheren Jahren: Nur noch um 4,4 Prozent legte sie im Pandemiejahr zu – die niedrigste Wachstumsrate seit 2009.
Weltweit wurden 2020 fünf neue Reaktoren in Betrieb genommen, darunter die ersten in Weißrussland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Zugleich wurden sechs Blöcke abgeschaltet. Damit liegt der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung seit einigen Jahren bei rund 10 Prozent und längst weit unter seinem Höchststand von 17,5 Prozent im Jahr 1996. Zugleich wird die globale Atomflotte immer älter: Das Durchschnittsalter der laufenden Reaktoren liegt heute bei etwa 31 Jahren, jede fünfte Einheit erreicht schon 41 Jahre oder mehr.
Längst haben die Investitionen in erneuerbare Energien jene in Atomkraft weit hinter sich gelassen – mit mehr als 300 Milliarden US-Dollar betrugen sie das 17-Fache dessen, was die Atomwirtschaft vermelden konnte. Zugleich haben in der EU die Erneuerbaren im vergangenen Jahr erstmals auch ohne die Wasserkraft mehr Strom erzeugt als die gesamten Atomreaktoren.
Selbst bestehende Reaktoren haben Schwierigkeiten
Die Ökonomie weist deutlich den Weg: Selbst bestehende Reaktoren hätten „zunehmend Schwierigkeiten, gegenüber ihren Konkurrenten auf dem Markt zu bestehen“, heißt es in dem Report. In vielen Regionen liege der Preis von Strom aus Solar- und Windenergie bereits weit unter den Betriebs- und Wartungskosten von Atomkraftwerken. Auch die in jüngster Zeit viel diskutierten neuen Reaktortypen, wie der Small Modular Reactor (SMR), könnten selbst unter günstigsten Umständen wahrscheinlich nicht wirtschaftlich werden.
Unklar sei ohnehin, ob das neue Reaktordesign jemals kommerziell verfügbar sein werde. Für die kommenden 10 bis 15 Jahren hält der WNISR das jedenfalls für ausgeschlossen, nachdem Pilotprojekte in Argentinien, China und Russland enttäuschend verlaufen seien. Somit gebe es „keine neuen Anzeichen für einen großen Durchbruch für SMRs, weder technologisch noch kommerziell“.
Entsprechend ist es mit der von der Atomwirtschaft gerne postulierten Zubauoffensive nicht weit her. Weltweit sind derzeit 53 Einheiten im Bau – im Jahr 2013 waren es noch 69. Die Bauzeiten sind zudem lang: In 19 Prozent der Fälle liegt der Baubeginn ein Jahrzehnt oder länger zurück; das betrifft auch die europäischen Projekte Olkiluoto-3 in Finnland (Baubeginn 2005) und Flamanville-3 in Frankreich (2007).