Interview: Georg Blume
8. Januar 2020 DIE ZEIT Nr. 3/2020, 9. Januar 2020
DIE ZEIT: Herr Schneider, wird Frankreich die europäische Atomindustrie am Leben erhalten?
Mycle Schneider: Nein.
ZEIT: Die französische Regierung plant, bis 2035 sechs neue Atomreaktoren zu bauen.
Schneider: Pläne sind das noch nicht. Man weiß weder, wo noch wann und mit welchem Design diese Reaktoren eventuell gebaut werden sollen.
MYCLE SCHNEIDER
60, ist ein deutscher Energieberater mit Sitz in Paris. Seit 2007 gibt er einen Jahresbericht über die Atomindustrie heraus (World Nuclear Industry Status Report, WNISR) und ist Mitglied der Internationalen Kommission über spaltbares Material an der Princeton-Universität (IPFM)
ZEIT: Aber es gibt eine neue Reaktorreihe, den EPR, zu Deutsch: Europäischer Druckwasserreaktor. Zwei EPR laufen in China, einer wird in Finnland fertiggestellt, ein weiterer 2022 in Frankreich, und ein dritter in England befindet sich im Bau.
Schneider: Der EPR ist ein Fiasko. Mit dem Bau des ersten Reaktors in Finnland wurde 2005 begonnen, 2009 sollte er fertig sein, und er ist heute noch nicht in Betrieb. Dann folgte der zweite Bau in Frankreich mit fast identischen Problemen: Beton- und Stahlherstellung waren unzureichend, Komponenten mangelhaft, das französische Zuliefersystem unzuverlässig.
ZEIT: 2011 gab es die Reaktorkatastrophe in Fukushima. Erklären sich die Schwierigkeiten nicht aus den seither gestiegenen Sicherheitsansprüchen?
Schneider: Der EPR ist keine Antwort auf Fukushima, sondern auf Tschernobyl, die Reaktorkatastrophe von 1986. Man hat das nur vergessen. Die Krise der Atomindustrie beginnt lange vor Fukushima. China hat schon im Jahr 2010, ein Jahr vor der Katastrophe in Japan, mehr in erneuerbare Energien investiert als in die Atomenergie.
ZEIT: Aber stehen jetzt nicht in China mit den ersten zwei EPR-Reaktoren die sichersten Atomkraftwerke der Welt?
Schneider: Ganz sicher nicht. Es sind die größten Reaktoren, damit wird auch das radioaktive Inventar größer, und Risiken erhöhen sich. Zudem kann kein unabhängiger Experte die Sicherheit in chinesischen Atomkraftwerken beurteilen. In Japan hat man nach Fukushima festgestellt, dass eine unabhängige Aufsicht praktisch nicht existierte. Auch in Südkorea gab es große Skandale bei der Qualitätskontrolle: Die Zertifikate Tausender AKW-Bauteile wurden dort gefälscht. Niemand weiß, ob es in China besser läuft.
„Die atomare Sicherheitskultur in Frankreich steckt in einer tiefen Krise“
ZEIT: Aber doch bestimmt in Frankreich?
Schneider: Spätestens mit dem EPR-Projekt hat die französische Aufsichtsbehörde ihre Unschuld verloren. Sie hat erlaubt, dass man den bereits eingebauten Druckbehälter des französischen EPR schönrechnete, nachdem klar war, dass er nicht den technischen Spezifikationen entsprach. Er ist nicht so resistent, wie er hätte sein sollen. Damit übergeht die Behörde ihre zuvor selbst aufgestellten Richtlinien. Zudem stellte sich heraus, dass der Hersteller des Druckbehälters, die Schmiede Creusot Forge, über Jahrzehnte systematisch Dokumente fälschte, und zwar zumindest teilweise mit Wissen der vom Staat kontrollierten Atomkonzerne. Die atomare Sicherheitskultur in Frankreich steckt in einer tiefen Krise.
ZEIT: Das hält den französischen Elektrizitätskonzern EDF nicht davon ab, den Preis eines weiteren neuen EPR zu benennen: Er soll bei 7,3 Milliarden Euro liegen, also nur bei etwa der Hälfte der bisherigen Kosten.
Schneider: Das ist die alte Strategie der französischen Atomindustrie: Sie definiert Zielvorgaben, die sich unmöglich einhalten lassen. Der EPR sollte längst ein Exportschlager sein. Dass es dazu nicht kam, begründet EDF mit ungünstigen Umständen. In Wirklichkeit waren die Exportpläne völlig unrealistisch. So war es auch beim heimischen EPR-Projekt: Als sich Präsident Jacques Chirac im Jahr 2005 für den Bau entschied, sollte er 2,5 Milliarden Euro kosten, heute werden seine Kosten auf 12 Milliarden Euro geschätzt. Die Politik trifft Entscheidungen auf der Basis von Vorgaben der Industrie, die mit der Realität nichts zu tun haben. Und später heißt es dann: Nun haben wir schon so viele Milliarden verbaut, da können wir doch nicht aufhören.
ZEIT: Viele Bürger nehmen das offenbar nicht übel. An den EPR-Bauplätzen in Finnland, Frankreich und England gibt es wenig Widerstand. Dazu kommt die Klimadiskussion, die den Betreibern von AKW aufgrund ihres geringen CO₂-Ausstoßes Argumente liefert. Verspricht das der Atomindustrie nicht doch eine bessere Zukunft?
Schneider: Neue Investitionen in Atomkraftwerke verschlimmern die Klimakrise. Wer in den Klimaschutz investiert, muss fragen: Wie verhindere ich CO₂-Ausstoß – so viel, so schnell und so günstig wie möglich. Umfang und Schnelligkeit der CO₂-Reduktion pro investiertem Euro sind wichtig, denn wir haben keine Zeit. Es ist daher bedeutungslos, wenn ein sehr teures Atomkraftwerk in zwanzig Jahren CO₂-Ausstoß vermeidet. Wir können die Treibhausgas-Emissionen viel schneller und billiger reduzieren. Im Jahr 2018 produzierten erneuerbare Energien, ohne Wasserkraft, weltweit fast 2000 Milliarden Kilowattstunden mehr Strom als 2008, während Atomkraft weltweit weniger erzeugte als vor einem Jahrzehnt. Das bedeutet: Atomkraft ist bereits von den Wettbewerbern verdrängt worden.
ZEIT: Warum unterstützen dann so viele kluge, aufgeklärte Franzosen aus allen Bevölkerungsteilen immer noch die Atomkraft?
Schneider: Weil es seit 40 Jahren ein kollektives Brainwashing gibt, dem jeder Franzose ausgesetzt ist. Viele haben das Gefühl, es gebe keine andere Wahl.