Joachim Wille • 10. Oktober 2024
„Harrisburg ist überall!“ So lautete der Slogan, mit dem Atomgegnerinnen und -gegner 1979 nach dem ersten Beinahe-Super-GAU der Geschichte in einem Leistungsreaktor mobil machten. In Block 2 des AKW nahe der Kleinstadt an der Ostküste der USA, genannt „Three Miles Island“ (TMI), war es zu einer teilweisen Kernschmelze gekommen, die das Innere des Reaktors verstrahlte. Radioaktive Gase gelangten an die Luft und kontaminiertes Wasser in den Fluss Susquehanna, die Angst vor einer Mega-Katastrophe ging um. Bis zu 200.000 Menschen flohen oder wurden evakuiert. Doch ausgerechnet ein Teil der Anlage, Block TMI-1, soll wieder ans Netz genommen werden.
Harrisburg als Signal für eine Renaissance der Atomkraft? Der Software-Konzern Microsoft will den Strom aus dem bei dem Fast-GAU unversehrt gebliebenen Reaktor für seine Rechenzentren nutzen. Er hat mit dem Betreiber der Anlage, Constellation, einen Stromabnahmevertrag über 20 Jahre geschlossen. Das Unternehmen will den Block für 1,6 Milliarden Dollar erneuern und bis 2028 wieder ans Netz bringen.
TMI-1 hatte bis 2019 Strom geliefert, wurde dann aber aus ökonomischen Gründen geschlossen. Constellation-Chef Joseph Dominguez sagte dazu: „Die Symbolik ist enorm. Das war der Ort des größten Misserfolgs der Industrie. Jetzt kann es der Ort der Wiedergeburt sein.“
Nicht nur der Software-Multi Microsoft, der sogar „CO₂-negativ“ werden will, erwärmt sich für eine Technologie, die schon abgeschrieben schien. Auch Amazon hat für seine Cloud-Sparte im Frühjahr im US-Bundesstaat Pennsylvania ein Rechenzentrum gekauft, das mit Strom aus einem AKW betrieben wird. Der Soft- und Hardwarehersteller Oracle will drei Mini-Reaktoren (Small Modular Reactors, SMR) bauen lassen. Und Sam Altman, Chef des ChatGPT-Entwicklers OpenAI, hat Geld in ein Start-up investiert, das ebenfalls SMR entwickelt.
Dass gerade in den USA so viel über die nukleare „Renaissance“ gesprochen wird, ist kein Zufall. Hier droht Knappheit auf dem Strommarkt, weil die Nachfrage nach vielen Jahren mit nur mäßigem Verbrauchswachstum stark ansteigt. Eine Flut neuer Rechenzentren aufgrund des Booms von künstlicher Intelligenz, Cloud-Diensten und der Produktion von Krypto-Währungen, aber auch die anstehende Elektrifizierung von Produktionsprozessen in der Industrie lässt die Atomkraft für viele Managerinnen und Manager in neuem Licht erscheinen.
So will der Chemie-Multi Dow eine Produktionsstätte in Texas mit Strom aus einem Mini-AKW des Herstellers X-Energy betreiben, das bis 2030 einsatzbereit sein soll. Auch der größte US-Stahlhersteller Nucor, der für die Produktionsumstellung große Mengen CO₂-freien Stroms braucht, will dafür nicht allein auf erneuerbare Energien setzen. Sein Chef Leon Topalian sagte: „Wind und Sonne werden dafür nicht ausreichen.“ Nucor investiert in Mini-AKW und ein weiteres Start-up, das Unternehmen Helion, das bis 2028 sogar schon ein funktionsfähiges Kernfusions-Kraftwerk liefern will.
Doch auch außerhalb der USA versuchen immer mehr Länder, der Atomkraft wieder einen Push zu geben, deren globale Kapazität seit Jahren stagniert und deren Anteil am weltweiten Stromverbrauch sich seit der Hochzeit vor einem Vierteljahrhundert auf nur noch rund neun Prozent halbiert hat. Frankreich will eine Serie neuer AKW bauen; auch Schweden plant neue Reaktoren. In Europa gibt es eine Reihe weiterer Aspiranten, so Belgien und die Niederlande, auch in der Schweiz wird darüber diskutiert. Neubaupläne gibt es auch in Bulgarien, Polen und Rumänien. Bangladesch will 2025 sein erstes AKW in Betrieb nehmen, und soeben hat auch Kasachstan die Weichen für den Einzug ins Nukleargeschäft gestellt. In einem Referendum am Sonntag (6. Oktober) stimmte eine Mehrheit von 71,2 Prozent für den Bau eines Reaktors.
Die Frage ist allerdings, wie realistisch die Renaissance-Pläne sind. AKW-Neubauten müssen in liberalisierten Strommärkten gegen Alternativen konkurrieren, die viel weniger kapitalintensiv sind und schneller gebaut werden können – vor allem die Erneuerbaren. Die Erfahrung mit neuen Reaktoren in Frankreich, Finnland und Großbritannien zeigen gewaltige Bauzeit- und Kostenüberschreitungen, ebenso die beiden Blöcke, die in den USA unlängst nach 15 Jahren Bauzeit ans Netz gingen. Die Reaktoren des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia kosteten 30 Milliarden Dollar, doppelt so viel wie geplant. In Großbritannien fiel der Beschluss zum Bau des neuen Doppel-Reaktors in Hinkley Point erst, nachdem die Regierung dem Betreiber eine Einspeisevergütung garantierte, die weit über Marktniveau liegt, und zusätzlich einen Inflationsausgleich.
Die absolut dominierende Rolle bei den AKW-Neubauten spielen China und Russland. Staaten also, in denen der Energiesektor stark staatlich gelenkt ist. So gab es laut dem jüngst vorgelegten „World Nuclear Industry Status Report“ in den letzten fünf Jahren weltweit 35 Baustarts, davon 22 in China und 13 durch Russland in verschiedenen Staaten. Der Hauptautor des Reports, Mycle Schneider, betont allerdings: Selbst in China sei der Atomzubau im Vergleich zum Ausbau anderer Energien marginal. So habe das Land 2023 einen neuen Atomreaktor mit gut einem Gigawatt (GW) Leistung ans Netz genommen, aber gleichzeitig Solarkraftwerke mit mehr als 200 GW. Die erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) erzeugten dort inzwischen viermal so viel Strom wie die Kernkraft.
Laut dem Bericht waren Mitte 2024 weltweit 408 Reaktoren in Betrieb, einer mehr als im Vorjahr, aber 30 unter dem Höchststand von 2002. Die installierte Leistung aller Reaktoren zusammen liegt geringfügig über dem im bisherigen Rekordjahr 2006. Anno 2023 wurden fünf AKW neu ans Netz genommen, in China, der Slowakei, Südkorea, den USA und Weißrussland, während fünf Reaktoren abgeschaltet wurden.
Der Bericht zeigt, wie unterschiedlich die Entwicklung der Energieformen ist. So hat die installierte Kapazität an Solarstrom inzwischen fast das Fünffache der seit Jahren wegen zunehmender Stilllegung von Altreaktoren stagnierenden Kernenergie überschritten; wobei die Werte aber insofern nur bedingt vergleichbar sind, da die Photovoltaik den Strom nicht kontinuierlich liefert.
Der Report hebt hervor, dass die Zukunft der Atomkraft stark davon abhängt, wie sich die Kosten für die Ökostrom-Speicherung entwickeln. Batteriespeicher zum Beispiel haben sich stark verbilligt, und es werde erwartet, dass sie Grünstrom zum Beispiel in China bedarfsgerecht bereits 2025 billiger liefern können als neue Kohle– und Atomkraftwerke. „Die wettbewerbsfähigen Kosten ... könnten sich in den kommenden Jahren als entscheidender Faktor für die Energiepolitik erweisen“, schreiben Schneider und die Co-Autoren. Auch laut der Internationalen Energieagentur (IEA) sollen Solar-plus-Speicher ab 2030 weltweit in allen Marktsegmenten konkurrenzfähig sein.
Schneider sieht denn auch im Plan, das AKW Harrisburg wieder in Betrieb zu nehmen, kein Anzeichen für eine Atomrenaissance. „Eine Maschine, die in den 1960er Jahren entwickelt wurde, wieder ans Netz nehmen zu wollen, zeugt von der verzweifelten Situation der Atomindustrie, die alle neuen technischen Entwicklungen verpasst hat“, sagte er der FR. Das Durchschnittsalter der US-Atomflotte liege inzwischen bei 43 Jahren, und kein Stromunternehmen sei an einem Neubau ernsthaft interessiert.
Zudem sei noch offen, ob Harrisburg tatsächlich wieder angestellt wird. Die technischen Herausforderungen seien immens und sehr kostspielig, zudem habe die Atom-Aufsichtsbehörde noch ein Wörtchen mitzureden. „So lässt sich die Microsoft-Entscheidung für den Harrisburg-Strom eher einordnen als Kniefall vor den anderweitigen atomaren Plänen ihres Gründers Bill Gates“, meinte Schneider. Der Milliardär Gates ist Atomkraft-Fan und Finanzier von Terrapower, einer Firma, die Mini-AKW bauen will.
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