Helmut Martin-Jung und Nakissa Salavati • 3. Dezember 2024
Wann beginnt ein Trend? So viel kann man wohl sagen: Wenn drei große Tech-Konzerne unabhängig voneinander ähnliche Pläne entwerfen, dann werden ganze Industrien, Forschungszweige und Investoren hellhörig. Gerade haben das Amazon, Google, Microsoft und Meta geschafft. Die US-Unternehmen verkündeten, wie sie künftig einen Teil ihres enormen Energiebedarfs decken wollen. Sie setzen dabei nicht auf Windkraft oder Solaranlagen, nicht auf Wasserstoff, nein: auf Atomkraft. Und damit auf eine Technik, die weltweit Rückschläge erlebt. Denn die Kraftwerke sind häufig sehr teuer, der Betrieb riskant.
Das weiß man auch in Harrisburg, Pennsylvania, wo es in den späten Siebzigerjahren einen Reaktorunfall gab. Dennoch: Microsoft will ausgerechnet neben dem Unglücksreaktor Three Mile Island einen Reaktor wiederbeleben, der eigentlich abgebaut werden sollte. Amazon und Google wiederum haben Abkommen mit Firmen geschlossen, die kleinere Atomreaktoren bauen wollen. Meta, der Facebook-Konzern, hat an diesem Dienstag nachgezogen und sucht nach einem passenden Kernkraftentwickler. Hat die Atomkraft also doch Zukunft, gibt es gar eine Renaissance? Muss man die alten Vorstellungen über Atomkraftwerke überdenken?
Schließlich, so die erste Hoffnung, sei die Technik nun viel weiter entwickelt: US-Start-ups wie Nuscale, Kairos oder Terrapower forschen an verschiedenen Methoden, kleinen Reaktoren und besonderen Kühlmitteln. Nuscale etwa entwickelt Small Modular Reactors (SMR), also kleine modulare Reaktoren, die eine deutlich geringere Leistung als konventionelle AKWs haben und deren Nachteile beheben sollen: Weil sie kleiner sind, könnten sie in Serie hergestellt und aufgebaut und ähnlich wie ein Baukasten erweitert werden. Daher seien sie günstiger und weniger riskant. Und dann sind da noch die prominenten Investoren, die zu den reichsten und einflussreichsten Menschen der Tech-Welt gehören. Microsoft-Gründer Bill Gates etwa hat den AKW-Entwickler Terrapower aufgebaut, Open-AI-Chef Sam Altman führt den Verwaltungsrat der Atomkraft-Firma Oklo.
Die Gründe für all die Hoffnungen sind nachvollziehbar. Tech-Konzerne benötigen jetzt schon immer mehr Energie, nämlich Unmengen an Strom in ihren Rechenzentren für jene Technik, die vielen als Heilsbringer gilt: Künstliche Intelligenz soll die großen Probleme der Zeit bewältigen. Vom Klimawandel über medizinische Diagnosen bis zum autonomen Fahren soll sie Lösungen liefern. Wenn ihr die Energie ausgeht, wäre das für die Tech-Konzerne ein existenzielles Risiko. Sie machen sich daher Sorgen, offenbar zu Recht: Das Beratungsunternehmen Gartner prognostiziert, dass schon 2026 die Hälfte aller G-20-Staaten regelmäßige Stromrationierungen erleben könnten. Der Bedarf an Strom jedenfalls werde höher sein als das Angebot, sagt Lloyd Jones, leitender Analyst bei Gartner. Nicht nur Industrie und Verkehr sollen künftig mehr Strom nutzen, auch der Anteil von Rechenzentren am Stromverbrauch steigt. Die Beratungsfirma IDC hat ausgerechnet, dass sich der globale Stromverbrauch von Rechenzentren von 2023 bis 2028 verdoppeln werde.
Die Antwort auf eine einzelne Anfrage bei dem Chatbot Chat-GPT etwa benötigt nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur (IEA) im Schnitt 2,9 Wattstunden Strom und damit knapp zehnmal so viel wie eine Google-Suchanfrage. Schätzungen zufolge hat allein das Training von Chat-GPT 3 knapp 1300 Megawattstunden (MWh) Strom gekostet. Damit könnten mehr als 300 Vier-Personen-Haushalte in Deutschland ihren Jahresbedarf an Strom decken. Das Training ist aber nur das eine. Davor mussten die Daten bereits gesammelt und aufbereitet werden. Und der größte Verbrauch fällt bei der Nutzung an.
Die Unternehmen sollten sich selbst um ihre Stromversorgung kümmern, rät der Berater
Das alles führt dazu, dass der Stromhunger wächst. Länder wie etwa Belgien oder die Niederlande haben in bestimmten Regionen bereits Moratorien für Rechenzentren erlassen, weil die Energieversorgung nicht sichergestellt werden kann. Gartner-Analyst Jones erwartet, dass die 500 größten Firmen bis 2027 insgesamt 500 Milliarden Dollar ihrer Energieausgaben umschichten werden in sogenannte Microgrids. Microgrids, das sind kleinere, dezentrale Kraftwerke, die nicht am öffentlichen Stromnetz hängen, sondern nur den Unternehmen als Energieversorgung dienen. Der Rat von Gartner: Die Unternehmen sollten sich selbst um ihre Stromversorgung kümmern - und viele würden das auch schon tun. Die großen Cloudanbieter, die sogenannten Hyperscaler, etwa deckten sich bereits mit Diesel- und Gasgeneratoren ein. Andere, jene drei Tech-Konzerne, wiederum investieren in Atomkraft.
Fragt sich, ob vor allem die kleinen Reaktoren die Erwartungen erfüllen können. Im „World Nuclear Industry Status Report 2024“, einer Analyse weltweit tätiger Energieforscher, heißt es: „Zwischen dem Hype um kleine modulare Reaktoren und der Realität klafft eine große Lücke.“ Ist es das, ein Hype? Alexander Wimmers von der Technischen Universität Berlin ist Mitautor der Studie, er sagt: „Die SMR-Technik ist nichts Neues, aber bis heute sei sie bis auf einzelne historische Demonstrationskraftwerke trotzdem nicht im Einsatz. Aktuell laufende Prototypen gibt es bisher nur in China und Russland.“ Zudem müssten die kleinen Reaktoren tausend- bis zehntausendfach aufgebaut werden, um so viel Strom zu erzeugen wie heutige AKWs, gibt das deutsche Bundesamt für die Sicherheit nuklearer Entsorgung (BASE) an und ergänzt: „Dieses Ziel liegt in weiter Ferne.“
Der „World Nuclear Industry“-Report weist zudem darauf hin, dass die Firma Nuscale als einziger SMR-Entwickler in den USA ein Sicherheitszertifikat erhalten habe, eine Voraussetzung für eine Betriebsgenehmigung. Allerdings sei seitdem kein Fortschritt sichtbar: „Im Januar 2023 summierten sich die Kosten auf 9,3 Milliarden Dollar, und Anfang November 2023 wurde ein gesamtes Investitionsprojekt gestoppt.“ Auch ein Blick auf die Finanzen der Firma zeigt diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Die Umsätze sind gering, die Verluste hoch, während die Firma an der Börse mehrere Milliarden wert ist und der Kurs weiter steigt. Die AKW-Technologie der Firma Kairos wiederum ist laut Wimmers „unerprobt“. Trotzdem hat Google im Oktober eine Kooperation angekündigt, der Plan: ein Kernkraftwerk bis 2035. In Wyoming hat Terrapower-Gründer Bill Gates im Juni zwar den Bau eines Kernkraftwerks eröffnet, bislang fehlt dem Unternehmen aber eine Betriebsgenehmigung.
All das könnte sich selbstverständlich noch ändern. Aber selbst wenn kleine Reaktoren tatsächlich im nächsten Jahrzehnt im großen Stil einsatzfähig wären, müssten sie neben den erneuerbaren Energien bestehen. Schon jetzt ist der Ausbau von Sonnen- und Windenergie weltweit gewaltig, vor allem in China, die Stromerzeugung aus Erneuerbaren übersteigt dort die aus Kernkraft deutlich. Einen Schub erhalten Solar- und Windstrom zudem, weil Batteriespeicher immer günstiger werden. Strom ist also auch dann günstig verfügbar, wenn es gerade dunkel und windstill ist. Der Preis für Strom aus neu erbauten AKWs hingegen sei der höchste überhaupt, heißt es im Atomkraft-Report, selbst, wenn man staatliche Subventionen herausrechnet.
Das Argument der Befürworter kleiner Reaktoren ist damit allerdings noch nicht widerlegt, sie sollen ja günstiger als bisherige Kraftwerke sein, der Strom entsprechend auch. TU-Wissenschaftler Wimmers sieht das kritisch: „Kleine Reaktoren sind wegen ihrer Größennachteile pro Kilowatt eher teurer als große Kraftwerke.“ Günstiger könnten sie erst werden, wenn sie in einer Serienproduktion mit Hunderten bis Tausenden Reaktoren identischer Bauart hergestellt würden. Und das sei, wie es auch das BASE sieht - „in den nächsten Jahrzehnten nicht abzusehen“. Zwar könnten kleine Reaktoren möglicherweise sicherer als AKWs mit hoher Leistung sein. Aber radioaktiver Müll entstehe selbstverständlich trotzdem, meint Wimmers. „Dabei gibt es nicht einmal eine Lösung für den bisherigen Abfall.“ Statt auf Atomkraft zu setzen, könnten Tech-Konzerne ihre Rechenzentren auch mit Solar- oder Windkraft und entsprechenden Batteriespeichern betreiben, das Stromnetz sei dafür auch in den USA stabil genug.
Dass die Unternehmen trotzdem öffentlichkeitswirksam Atomkraft bevorzugen, erklärt sich der Wissenschaftler auch mit der Kultur der Tech-Konzerne: „Der Glaube an die Atomkraft hat viel mit einem Technikoptimismus des Silicon Valley zu tun, der verspricht: Technik wird das Energieproblem lösen, ohne dass die Gesellschaft ihr Verhalten ändern muss. Das halte ich nicht für plausibel.“
Manchmal geht dieser Optimismus sogar eine Verbindung mit traditioneller Industrie ein: Im August unterzeichnete die Sam-Altman-Firma Oklo eine Vereinbarung mit Siemens Energy. Deutsche Dampfturbinen für moderne US-Reaktoren? Wer weiß.
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