von M. KRUPA, U. LADURNER und S. SHAFY • am 13. April 2023
Am Ende eines Waldweges steht ein Gebäude aus rotem Backstein und Glas. Unkundige sollten nicht versuchen, den Namen auf der Fassade auszusprechen: Vierailukeskus. Aber man liest es mit Erleichterung. Es bedeutet, dass man nach dreistündiger Rutschfahrt durch den finnischen Frühling – Schneegestöber, Eisklumpen auf der Straße und etliche Warnungen vor dem Elch – am Ziel angekommen ist. Vierailukeskus heißt »Besucherzentrum«.
Zwanzig ausländische Medienleute dürfen an diesem Morgen im März Finnlands neuen Atomreaktor erkunden, gelegen auf einer Insel rund 300 Kilometer nordwestlich von Helsinki. Olkiluoto 3 ist einer der größten Atommeiler der Welt, in diesen Tagen soll er ans Netz gehen. Für die deutschen Reporterteams ist es eine Reise in eine andere Energiewelt. Während in Deutschland die letzten drei Atomkraftwerke endgültig abgeschaltet werden, präsentieren die Finnen stolz ihre neue Anlage. Sie sind nicht die Einzigen in der Europäischen Union, die nun erst recht auf Kernenergie setzen. Zwölf Jahre nach der Katastrophe von Fukushima könnte die Atomkraft eine Renaissance erleben – in Europa und weltweit.
Weshalb aber blicken die Menschen in anderen europäischen Ländern ganz anders auf die Kernenergie als lange Zeit die Mehrheit der Deutschen? An drei AKW-Baustellen – in Finnland, der Slowakei und Frankreich – hat ein Reporterteam der ZEIT nach einer Antwort gesucht.
Im Nebel hinter der Terrasse des Besucherzentrums treten die Umrisse von drei Reaktorblöcken hervor. Zwei klotzige Siedewasserreaktoren sind seit Ende der 1970er-Jahre in Betrieb: Olkiluoto 1 und Olkiluoto 2. Das neue Bauwerk ist ein europäischer Druckwasserreaktor und sieht aus wie eine gewaltige Moschee mit Minarett. Aus dem Turm steigt Rauch auf. »Wir sind in der Aufwärmphase«, sagt Pasi Tuohimaa, der Kommunikationschef des Nuklearunternehmens Teollisuuden Voima Oyj. »Ab Mitte April läuft hier alles ganz normal.«
»Ganz normal« bedeutet: Olkiluoto 3 wird 14 Prozent des Strombedarfs in Finnland abdecken. Vorausgesetzt, es geht jetzt nichts mehr schief.
Der finnische Koloss sollte ursprünglich 2009 einsatzbereit sein; die Bauarbeiten hatten 2005 begonnen. Aber es gab Probleme. Mal mit der Turbine, mal mit kaputten Speisewasserpumpen. Am Ende kostete der Bau statt drei rund zehn Milliarden Euro.
Ist das nicht Grund genug, sich von dieser unkalkulierbaren Technologie zu verabschieden? Pasi Tuohimaa widerspricht: »Bedenken Sie, wie viel Energie so ein Atomkraftwerk produziert. Es ist eine Menge, rund um die Uhr, brrrrmmmmmm!« Das mit den Kosten sei halb so wild: »Wir bezahlen einen Festpreis von 5,7 Milliarden Euro. Für den Rest müssen wir den französischen Steuerzahlern danken«, sagt er. Denn federführend bei dem Bau war der mittlerweile zerschlagene französische Nuklearkonzern Areva, de facto ein Staatsunternehmen. Teile des Kraftwerks kamen aus Deutschland, von Siemens.
»Ach ja, die Deutschen.« Tuohimaa sagt, er verstehe die Angst vor der Atomkraft nicht. »Tschernobyl war der eine, fette Unfall. Aber Tschernobyl war gebaut wie ein Stall, ohne jede Sicherheit. Und Fukushima war nur ein kleiner Zwischenfall.«
Soll das ein Argument für Nuklearenergie sein? Er antwortet mit einer Gegenfrage: »Warum macht ihr euch eigentlich keine Sorgen wegen der ganzen Kohle? Ihr seid einer der größten Verschmutzer in Europa!« Außerdem: Anders als Deutschland habe Finnland sich nie von russischer Energie abhängig machen wollen. Auf Gas aus Russland könne man leicht verzichten, sagt Tuohimaa, weil in Finnland vor allem mit Strom geheizt werde. Und 44 Prozent des Strombedarfs würden nun bald durch Atomkraft abgedeckt.
Laut aktuellen Umfragen haben 60 Prozent der Finninnen und Finnen eine »gänzlich positive« oder »überwiegend positive« Einstellung zur Atomkraft. Ihnen geht es um Versorgungssicherheit – aber auch ums Klima: Finnland soll 2035 der erste CO₂-neutrale Industriestaat der Welt werden.
Ein Zeugnis menschlicher Kühnheit, denkt man bei der Besichtigung gigantischer Turbinen und neuer Speisewasserpumpen, die angeblich keine Risse mehr bekommen sollen. Doch die Finnen wirken unbeirrt. Und treiben neben Olkiluoto 3 das nächste nukleare Megaprojekt voran.
Wir bekommen eine Gürteltasche mit zwei Atemschutzmasken und fahren in die Unterwelt. Onkalo heißt diese Baustelle, »Höhle«. Ein Tunnel frisst sich spiralförmig fast einen halben Kilometer in die Tiefe. Voraussichtlich ab 2025 sollen hier ausgemusterte Brennstäbe versenkt werden – im ersten nuklearen Endlager der Welt.
Onkalo sei ein »Gamechanger« für die Industrie, schwärmte der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, bei einer Besichtigung Ende 2020. Vergangenes Jahr lobte die IAEA Finnlands »sicheren und nachhaltigen Umgang« mit dem radioaktiven Müll. Anders als einst im niedersächsischen Gorleben geht hier kaum jemand gegen das Endlager auf die Barrikaden. Nicht einmal die finnischen Grünen. In ihrem Parteiprogramm von 2022 bezeichnen sie Atomkraft als nachhaltige Energiequelle.
Die Atomkraft spaltet die EU in zwei fast gleich große Lager: 13 der 27 Staaten produzieren nukleare Energie, die übrigen 14 nicht. Ende März einigten sich die Institutionen der EU darauf, dass 42,5 Prozent des europäischen Energiebedarfs bis 2030 aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden soll. Dreizehn Staaten kämpften bis zum Schluss dafür, Kernkraft als grüne Technologie einzustufen. Doch sie erzielten nur einen Teilerfolg. Den Franzosen wurde zugestanden, dass sie aus Atomkraft hergestellten Wasserstoff – sogenannten »roten Wasserstoff« – als erneuerbare Energie anrechnen dürfen. Aber nur, wenn dies den Ausbau von Wind- und Sonnenkraft nicht gefährdet.
Es ist Februar, ein windiger und sehr milder Tag in Bratislava. »Als ich noch ein Kind war«, sagt Branislav Strýček, »lag um diese Jahreszeit ein Meter Schnee. Und heute?« Strýček, 48 Jahre alt, blickt aus dem Fenster seines Büros über die Dächer der Stadt. »Kein Schnee. Nichts. Der Klimawandel findet statt, das ist nicht zu leugnen. Deswegen müssen wir die Dekarbonisierung der Wirtschaft schnell vorantreiben.«
Strýček ist der CEO von Slovenské Elektrarné. Der slowakische Energiekonzern betreibt das Atomkraftwerk in Mochovce, rund 120 Kilometer von Bratislava entfernt, wo ein Reaktor im Bau ist. Strýček sagt: »Nur mit dieser Energiequelle werden wir unsere Ziele bei der Reduktion von CO₂ erreichen.«
65 Prozent der slowakischen Bevölkerung befürworten die Kernenergie. Widerstand gegen Atommeiler? Fehlanzeige. Kein Wunder, meint Strýček: »Die Kernenergie ist sicher, sie ist sauber, sie ist günstig.« Auch dank des Atomstroms habe man die Bürgerinnen und Bürger vor den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine schützen und die Energiepreise auf erträglicher Höhe halten können.
Dabei ist die Geschichte von Mochovce durchaus geeignet, die Skepsis an der Atomkraft zu nähren. In den 1970er-Jahren entschied sich die damals kommunistische Tschechoslowakei für die Atomenergie. Das Dorf Mochovce wurde in weiten Teilen abgerissen, um Platz für eine Baustelle zu machen. 1985 begannen die Bauarbeiten, nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden sie aus finanziellen Gründen gestoppt. Erst Ende der 1990er-Jahre nahmen die Reaktorblöcke 1 und 2 den Betrieb auf. 2008 beschloss die slowakische Regierung, auch die Blöcke 3 und 4 fertigzustellen – doch die Bauarbeiten zogen sich wieder in die Länge.
Pannen, Unfälle und Skandale häuften sich: Die NGO Global 2000 im benachbarten Österreich beruft sich auf Whistleblower, die von bedrohlichen Baumängeln in der Anlage sprechen. Außerdem seien die Investitionen von 2,8 Milliarden auf 6,2 Milliarden Euro hochgeschnellt.
All das ficht Strýček nicht an. Am heutigen Kraftwerk sei nur noch das äußere Design aus der Sowjetzeit, sagt er, alle wichtigen Bestandteile seien modernisiert worden. Auch dass die Slowakei Uran aus Russland importiert, sei kein Problem: Sollte russisches Uran unter die Sanktionen fallen, ließe sich leicht Ersatz auf dem Weltmarkt besorgen.
Strýček glaubt, die Geschichte auf seiner Seite zu haben. Davon ist auch sein Blick auf den deutschen Ausstieg geprägt. »Eine Verrücktheit«, sagt er. »Ihr wart doch gerade bei der Kernenergie so weit vorn. Wir haben zu euch aufgeschaut.«
Gern hätten wir das so gepriesene Bauwerk in Mochovce besichtigt. Der CEO verwies an eine Mitarbeiterin, die einen Besuch noch im Februar organisieren sollte. Doch dann wurden wir vertröstet, wieder und wieder, bis heute.
Wir fahren zur dritten europäischen Atom-Baustelle. Flamanville ist ein hübscher Ort an der normannischen Küste. Das Schloss am Dorfeingang ist von einem Wassergraben umgeben. Der Platz vor der Kirche ist neu gepflastert, zwei Gärtner bepflanzen die Blumenbeete. An der Hauptstraße wird gebaut – kein Vergleich mit anderen, verlassenen Regionen im ländlichen Frankreich.
Flamanville zählt rund 1700 Einwohner und prosperiert. Seinen Wohlstand verdankt es der Atomenergie. In den 1970er-Jahren wurden hier zwei Kernkraftwerke gebaut, bald soll ein dritter Reaktor ans Netz gehen.
Folgt man dem Weg aus dem Dorf hinaus zum Meer, passiert man Felder, auf denen gerade Dung ausgebracht wird. Ein Hinweisschild bittet Bauern und Jäger um Rücksichtnahme auf die Fasane, dann stößt man auf eine steil abfallende Straße. Dahinter erstreckt sich das Werksgelände des Nuklearkonzerns Électricité de France (EDF). Stacheldraht und Absperrgitter sichern die Anlage. Die Reaktoren entziehen sich dem Blick von außen. Das Atomkraftwerk kauert am Fuße eines Granitfelsens und hat keine Kühltürme, denn gekühlt wird mit Meerwasser. Alle Anfragen, ob man die Zukunft der französischen Atomindustrie aus der Nähe betrachten kann, hat EDF abgewiesen. Es ist nicht einmal möglich, einen Verantwortlichen des Unternehmens zu sprechen.
Auch Flamanville 3 ist ein Druckwasserreaktor, wie Olkiluoto 3 in Finnland. Und genau wie dort gab es Probleme. Die geplanten Kosten von 3,3 Milliarden Euro sind auf 13,2 Milliarden Euro angestiegen. Eigentlich sollte das AKW 2012 ans Netz gehen. Im vergangenen Dezember verschob EDF die Befüllung des Reaktors mit Brennstäben noch einmal auf Mitte 2024. Immer neue Mängel, zuletzt vor allem an Schweißnähten, haben die französische Atomaufsicht auf den Plan gerufen. Schon vor drei Jahren veröffentlichte der französische Rechnungshof einen vernichtenden Bericht: Die Entscheidung zum Bau des Reaktors sei »überstürzt« und »fehlerhaft« gewesen, heißt es darin.
Trotzdem hat die Nationalversammlung vor wenigen Wochen mit großer Mehrheit per Gesetz den Bau weiterer Atomkraftwerke ermöglicht. Mindestens sechs neue Reaktoren will der Präsident Emmanuel Macron in Auftrag gegeben. Dank der Atomkraft, argumentiert Macron, verfüge Frankreich über eine weitgehend CO₂-freie Stromproduktion und sei weniger abhängig von Dritten. Die Nuklearindustrie ist die drittgrößte Branche des Landes; insgesamt hängen nach Angaben der Regierung rund 220.000 Arbeitsplätze direkt oder indirekt von ihr ab.
Flamanville liegt im Cotentin, auf einer breiten, von Meer und Wind umtosten Landzunge, die sich in den Ärmelkanal erstreckt. Eine ursprünglich arme, agrarisch geprägte Region. Zu Beginn der 1960er-Jahre wurde ganz im Norden, in La Hague, eine nukleare Wiederaufbereitungsanlage gebaut. Unweit davon, in Cherbourg, werden Atom-U-Boote hergestellt. Wie keine andere Region in Frankreich ist das Cotentin den Risiken der Kernenergie ausgesetzt; wie keine andere Region hat sie von der Atomindustrie profitiert.
Franck Brisset, der neue Bürgermeister von Flamanville, nimmt sich am Telefon ein paar Minuten Zeit. »Wir wissen noch nicht genau, welchen Einfluss der dritte Reaktor auf unser Budget haben wird. Aber klar ist, dass er den finanziellen Spielraum der Gemeinde vergrößern wird.« Schon jetzt sei der Anteil, den EDF zum Haushalt der Gemeinde beitrage, »sehr bedeutend«. Die Region trägt das Risiko, dafür bringt EDF Wohlstand und Arbeitsplätze – von diesem Deal profitieren beide Seiten. Solange nichts passiert.
Allerdings finden sich selbst in Flamanville ein paar Autos mit den bekannten gelben Anti-AKW-Aufklebern. André Jacques ist Präsident des Comité de réflexion, d’information et de lutte anti-nucléaire, seit fast fünfzig Jahren kämpft die Organisation gegen das AKW, meist auf verlorenem Posten. »Frankreich ist kein rationales Land«, sagt Jacques, das Bekenntnis zur Nuklearenergie sei »wie eine Religion«. Trotzdem will er die Hoffnung nicht aufgeben, Flamanville 3 könne vielleicht doch noch gestoppt werden.
Flamanville, Mochovce und Olkiluoto – an allen drei Orten hat sich der Bau der neuen Atomkraftwerke massiv verzögert, sind die Kosten explodiert. Kritiker der Kernenergie sehen nach den zahlreichen Pannen und Zwischenfällen all ihre Einwände bestätigt. Dennoch haben die Regierungen in Finnland, der Slowakei und Frankreich bei der Abwägung anders entschieden als Deutschland. Auch Polen hat beschlossen, den Ausstieg aus der Kohle durch den Bau von sechs Atomkraftwerken zu kompensieren.
Weltweit befanden sich Anfang 2023 in 17 Ländern 59 Atomkraftwerke im Bau, so steht es im World Nuclear Industry Status Report, den der unabhängige Berater Mycle Schneider herausgibt. Zehn dieser Bauprojekte wurden erst 2022 begonnen, die Hälfte davon in China. Global betrachtet, stammen vier von fünf neuen Reaktoren entweder aus chinesischer oder aus russischer Produktion. Die Frage, ob die Atomkraft tatsächlich eine Renaissance erlebt, wird am Ende nicht in Europa entschieden.
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