18 April 2023

Zeit Online (Germany)

AKW weltweit—Stabil am Abklingen“

„Deutschland steigt aus, aber was macht der Rest der Welt in Sachen Atomkraft? Ein Blick auf die globale Entwicklung – und was die erneuerbaren Energien so machen.“
Source : Die Zeit: AKW weltweit—Stabil am Abklingen https://www.zeit.de/politik/2023-04/akw-weltweit-neubau-renaissance-atomkraft

von Ingo Arzt • am 15. April 2023

Deutschland steigt aus, aber was macht der Rest der Welt in Sachen Atomkraft? Ein Blick auf die globale Entwicklung – und was die erneuerbaren Energien so machen.

Der Ausstieg ist vollzogen, doch die Debatte um die Atomkraft nicht: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) etwa spricht in den Tagesthemen bereits von einem möglichen Wiedereinsteig. Etliche Länder der Welt, fast alle Nachbarländer Deutschlands, würden jetzt anfangen, wieder neue Kernkraftwerke zu bauen, sagte Söder. Im Kern stehen in der AKW-Debatte zwei Erzählungen gegeneinander: die der Renaissance der Atomkraft, auf die Söder setzt. Und die einer technologischen Resterampe, nach der Atomkraft auch global ein Auslaufmodell ist. Wie sieht es nun weltweit aus?

Wie erging es der Atomkraft in letzter Zeit weltweit?

Man könnte sage: Atomkraft ist global gesehen stabil am Abklingen. Ihren Höhepunkt hatte die Atomkraft im Jahr 1996, damals stellte sie 17,5 Prozent der weltweiten Stromerzeugung. Wind und Solarenergie spielten noch keine nennenswerte Rolle. Der Anteil der Atomenergie sankt seitdem kontinuierlich, im Jahr 2021 lag er noch bei 9,8 Prozent. In absoluten Zahlen produzieren die AKW zwar ungefähr so viel Strom wie 1996 – weil die Welt aber immer mehr Energie benötigt und diesen Bedarf aus anderen Quellen deckt, sinkt ihre relative Bedeutung.

Wind und Solarenergie dagegen sind seitdem weltweit massiv ausgebaut worden. Im Jahr 2022 überholten sie die Atomkraft und steuerten über zehn Prozent der weltweiten Stromerzeugung bei. Andere Co2-freie Quellen wie Wasserkraft mit eingerechnet lag der Anteil der erneuerbaren Energien der Internationalen Energieagentur IEA zufolge 2021 sogar bei fast 29 Prozent.

Das heißt aber nicht, dass seit Jahrzehnten keine neuen Atomkraftwerke gebaut worden sind. Es gehen aber seit Langem praktisch genauso viele aus Alters- oder Sicherheitsgründen vom Netz, wie neue hinzukommen. Die Zahl der aktiven AKW ist deshalb seit rund drei Jahrzehnten ungefähr gleich. Nach Angaben der Internationalen Atomenergieorganisation IAEA waren es 2021 weltweit 437, der als industrieunabhängig geltende World Nuclear Industry Status Report (WNISR) zählt 408, weil die Analysten dort Kraftwerke, die seit mindestens einem Kalenderjahr vom Netz sind, im Gegensatz zur IAEA nicht mitzählen.

Wird es eine Renaissance der Atomkraft geben?

Damit rechnen Industrie und Teile der Politik schon lange. Das zeigt sich etwa im jährlich erscheinenden World Energy Outlook der IEA. Das ist die global wichtigste Publikation zu Energiefragen, denn die IEA wird von 31 Industriestaaten getragen, in ihren Gremien sitzen auch Vertreter aus der Energiewirtschaft. Im Jahr 2010 etwa prognostizierte die IEA, dass die Atomkraft bis 2020 weltweit um 28 bis 40 Prozent wachsen würde. Das blieb bekanntlich aus. Dass stattdessen Sonne und Windkraft die Atomenergie überholen würden, hatte die IEA nach den damals publizierten Zahlen nicht einmal ansatzweise auf dem Schirm.

Heute ist die IEA weitaus zurückhaltender, was Atomkraft angeht – sieht in ihr aber einen Baustein für CO₂-freie Stromerzeugung, um das Ziel zu erreichen, bis 2050 eine klimaneutrale Welt zu schaffen. Doch allein, um den Anteil von zehn Prozent der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung zu halten, müssten bis 2030 rund 120 Gigawatt neue Leistung ans Netz gehen, das entspricht circa 120 Reaktoren. Bis 2050 müssten weitere 300 Gigawatt hinzukommen, das entspricht drei Vierteln der derzeitigen weltweiten AKW-Flotte. Es müsse eine „neue Welle von Kernkraftwerksneubauten in allen aktiven Märkten“ geben, allein, um die Stilllegungen auszugleichen, schreibt die IEA. Auch Laufzeitverlängerungen seien wichtig. In keinem Szenario der Experten erreicht die Atomkraft wieder ihren alten Anteil am Energiemix von 1996. Eine Renaissance sieht wohl anders aus.

Und wer konkret baut denn jetzt derzeit Atomkraftwerke?

Derzeit sind dem WNISR zufolge weltweit 53 Reaktoren im Bau, davon 21 in China, acht in Indien und jeweils drei in Russland, Südkorea und der Türkei. In der EU sind es einer in Frankreich und zwei in der Slowakei, dazu kommen zwei in Großbritannien. Frankreich plant den Bau von 14 neuen Atomkraftwerken, um wenigstens einen Teil seiner alternden Meiler zu ersetzen. Das jüngste Projekt, der europäische Druckwasserreaktor, der sich im französischen Flamanville immer noch im Bau befindet, ist allerdings ein abschreckendes Beispiel: Ursprünglich sollte er drei Milliarden Euro kosten und schon längst in Betrieb gehen, mittlerweile liegen die Kosten bei rund 20 Milliarden Euro. Japan will trotz der Katastrophe von Fukushima seine Flotte wieder ausbauen. In den USA spricht die Regierung von Joe Biden vor allem davon, die vorhandenen Kapazitäten zu erhalten.

Inwieweit weitere Pläne realisiert werden, hängt vor allem von Subventionen ab: Während dem WNISR zufolge die Kosten für etwa Solarenergie seit 2009 um 90 Prozent gesunken sind, sind die von Atomkraftwerken um ein Drittel gestiegen. In Großbritannien etwa ist der Bau der beiden neuen Meiler nur durch jahrzehntelange staatliche Preisgarantien für den erzeugten Strom möglich. Weltweit ist der Trend eindeutig: 2022 sind 472 Milliarden Dollar in erneuerbare Energien investiert worden, dazu 337 Milliarden in Speicher und Netze, die nötig sind, um die schwankende Erzeugung auszugleichen. In Kernenergie flossen dagegen 49 Milliarden.

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